Im Unglück vereint

Zwei Tragödien, eine Farm und eine unerhörte Begebenheit: Nicholas Shakespeare schildert den ländlichen Alltag und psychologische Abenteuer auf Tasmanien – „Sturm“

Zunächst war Tasmanien für den Schriftsteller Nicholas Shakespeare ein Fluchtort – während der Arbeit an seiner Biografie über den großen Reisenden Bruce Chatwin wollte er sich an einem Ort aufhalten, an dem Chatwin nicht gewesen ist. Als lesenswertes Randprodukt entstand dabei das Buch „In Tasmanien“, das die Geschichte und Geografie der relativ kleinen (die Fläche ist in etwa vergleichbar mit der Bayerns), dem australischen Festland südöstlich vorgelagerten Insel mit der eigenen Biografie verbindet – Shakespeares Urgroßonkel war einer der ersten, die Tasmanien auf grausame Weise kolonialisierten. Tasmanien also ist relativ weit weg von allem und wird bevölkert von einem eigenwilligen Menschenschlag, so auch in Wellington Point, dem fiktiven Zentrum des Geschehens in Shakespeares neuem Roman „Sturm“.

Gleich auf der ersten Seite lernen sich Alex und Merridy kennen; sie bemüht sich soeben, gemeinsam mit ihrer Cousine Tildy über einen Zaun zu klettern („sie sah aus wie eine vom Festland“), er hat die Mülleimer rund um die Schule nach Eisstielen durchsucht. Man wird im Lauf der Zeit erfahren, was es damit auf sich hat. Gleich mehrere Familientragödien bilden die psychologische Grundlage des Romans: Alex’ Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen; danach wuchs er in England bei Verwandten auf und kehrte nach dem Studium zurück nach Wellington Point, um den vernachlässigten Hof seiner Eltern zu bewirtschaften. Merridy hingegen hat ihr Studium auf dem Festland unterbrochen, um ihren nach einem Unfall gelähmten Vater und die Mutter in ein Pflegeheim zu begleiten. Letztere wiederum hat sich nach dem spurlosen Verschwinden ihres Sohnes an dessen siebten Geburtstag in die Frömmelei geflüchtet; der Vater kann sich nicht mehr artikulieren.

In Wellington Point kreuzen sich die Wege, und es scheint, als sei es das gemeinsame Unglück, das eine gegenseitige Anziehung ausübt: „Der junge Farmer hatte in ihr Gefühle geweckt, von denen Merridy argwöhnte, dass sie gefährlich nah an denen lagen, die sie zu vermeiden versuchte.“ Shakespeare begleitet seine Figuren über 17 Jahre hinweg, von 1988 bis 2005. Er erzählt die Vorgeschichten in epischer Breite, bis das verheiratete Paar schließlich beginnt, die Moulting Lagoon Farm gemeinsam zu bewirtschaften. Die ohnehin enge Welt von Wellington Point wird noch einmal enger; in allen Details schildert Shakespeare die Widrigkeiten des ländlichen Alltags, und erstaunlicherweise geschieht das auf eine so geschickte Weise, dass man sich sogar für einen defekten Windmühlenmotor zu interessieren beginnt. Hinter der mehr oder weniger geglückten Wirklichkeitsbewältigung lauert bei Alex und Merridy die schleichende Entfremdung – während Merridys Cousine Tildy, die den großspurigen Immobilienmakler Ray geheiratet hat, ein Kind nach dem anderen in die Welt setzt, bleibt Alex und Merridys Ehe aus medizinisch unerklärlichen Gründen kinderlos.

Je verzweifelter dieser Zustand wird, umso größer wird leider auch die Dosis an schiefem Pathos, die in Shakespeares Sprache einfließt: „Wilde Flammen, das waren ihre Lippen und Hände, aber ihr Herz blieb dunkel.“ Das ist dann vielleicht doch ein wenig zu viel an kraftvollen Bildern.

Man richtet sich ein in diesem unerfüllten Leben; Merridy baut eine erfolgreiche Austernzucht auf, Alex versucht aus der Farm Gewinne zu schlagen – bis eines Tages eine geradezu unerhörte Begebenheit alles verändert, indem während eines Jahrhundertsturms ein Schiff vor der Küste in Seenot gerät und Alex unter Einsatz seines Lebens einen Jungen aus den Wellen rettet, der sämtliche Wunschfantasien des Paares ausfüllt und gleichzeitig deren Traumata erneut wachruft.

Es ist dies nicht das erste Mal, dass Shakespeare auf eine schematische psychologische Konstruktion zurückgreift. Hin und wieder wirkt der Roman, als sei er streng am Reißbrett entworfen. Aber vor allem die Alex-Figur hält in ihrer überzeugend gestalteten Verbundenheit von Mentalität und Landschaft das Spannungsverhältnis der Figuren am Leben. CHRISTOPH SCHRÖDER

Nicholas Shakespeare: „Sturm“. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. mare buchverlag, Hamburg 2007, 543 Seiten, 24,90 Euro