Sex, Drugs & Rollstuhl

Wo die Schweiz pragmatisch ist, war Deutschland lange dogmatisch: Hierzulande gilt zwar immer noch vielerorts das Ideal der Abstinenz, doch auch hier wandelt sich in den letzten Jahren die Einstellung. Die meisten Wohnmöglichkeiten mit begleitendem Personal wie das Bewo City, die vor allem versuchen, die Lage der Patienten zu stabilisieren, richten sich in Deutschland an die Konsumenten von legalen Drogen. Es gibt auch schon ein paar vergleichbare Projekte, zum Beispiel die Betreute Wohngemeinschaft Eschenbachhaus in Frankfurt. 1996 ursprünglich für HIV-infizierte Drogenabhängige gegründet, geht das Haus nun auch auf die veränderten Bedürfnisse anderer alternder Suchtkranker ein. Doch arbeitet man hier mit einem sehr viel größeren Aufwand an Personal und Kosten, da es auch Therapieangebote und Pflegedienste für Immobile und Schwerstkranke gibt. Den größten Bedarf an solchen Einrichtungen gibt es in Frankfurt und Berlin.

„Wir denken bereits konkret über Projekte nach“, sagt Thomas Bader vom Baden-Württembergischen Landesverband für Prävention und Rehabilitation. „Nach vierzig Jahren Drogenkonsum in Deutschland gibt es zum Glück auch ‚alte‘ Drogenabhängige, die die schwierige Zeit überlebt haben.“ Allerdings müsse sich so eine Einrichtung an Menschen mit ‚strukturierten‘ Drogenkonsum richten, also an jemanden, der im Rahmen eines Programms kontrolliert Drogen oder Methadon nimmt. „Ein Projekt für jemanden, der alles konsumiert, finde ich nicht sinnvoll. Dennoch bleibt oberstes Gebot: Alle müssen, egal in welchem Zustand, ein angemessenes Betreuungsangebot finden, auch im betreuten Wohnen.“

Das Thema „Sucht im Alter“ wird erst in jüngster Zeit immer mehr in Fachkreisen diskutiert. Psychiater, Sozialarbeiter und Allgemeinmediziner stimmen darin überein, dass der Umgang mit alternden Suchtkranken eine der großen Fragen der nächsten Jahre sein wird. Deswegen wird es auch wichtig, sich untereinander zu vernetzen. Sucht und Alter hängen zweifach zusammen: Zum einen bedingen die Drogen früheres Altern, zum anderen führt der „Schock“ über das eigenen Altern oft zu einer Flucht in Alkohol und Medikamente. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen geht davon aus, dass 27 Prozent der Männer und acht Prozent der Frauen über sechzig so viel Alkohol trinken, dass ihr Risiko für zahlreiche Krankheiten größer werde; bis zu zehn Prozent wiesen „einen problematischen Gebrauch psychoaktiver Medikamente auf“, das wären zwei Millionen Frauen und Männer (näheres unter unabhaengig-im-alter.de).

Fast jeder zehnte Bewohner deutscher Altenheime ist weit unter 65 Jahre alt. Die meisten werden so jung eingewiesen, da die Folgeschäden einer Alkoholabhängigkeit ein selbstständiges Leben unmöglich gemacht haben. Einige Experten sagen sogar, dass Suchtkranke bei ihrem Eintritt ins Heim durchschnittlich zwanzig Jahre jünger seien als Nichtsüchtige. Die deutschen Studien zu dem Problem „Sucht und Alter“ beziehen sich allerdings vorwiegend auf legale Drogen.

Über die Hälfte der Alkoholiker hat Schwierigkeiten, sich in den Heimbetrieb einzugliedern, sie fallen durch aggressives Verhalten gegenüber anderen Bewohnern und dem Personal auf. Der überwiegende Teil der Alkoholiker in den Heimen hat einen gesetzlichen Betreuer und signifikant weniger Besuch. Zehn Prozent leiden unter psychischen Störungen – eine Folge des Alkoholkonsums. „Es wird notwendig, auch in den Spezialeinrichtungen für Suchtkranke geeignete Angebote für ältere Menschen zu schaffen“, stellte Siegfried Weyerer in der Zeitschrift für Gerontopsychologie und -psychiatrie 2006 fest. JUL

Sie haben ein Leben voller gescheiterter Versuche hinter sich. In der Schweiz müssen sie sich nicht dafür rechtfertigen. Man lässt sie. Über ein Wohnheim speziell für alternde Suchtkranke in Zürich

AUS ZÜRICH JUDITH LUIG (TEXT) UND HEIKE GRASSER (FOTOS)

Marcell hat Christine vor acht Jahren kennengelernt. Sie saß mit ihrem Hund auf der Straße und bettelte. Es war ein kalter Tag, und nachdem Marcell ihr Geld gegeben hatte, nahm er Christine ein bisschen in den Arm, um sie zu wärmen. „Ich habe sie noch am Abend mit nach Hause genommen“, erinnert sich Marcell, und auf seinem starren Gesicht ist so etwas wie ein Lächeln zu erkennen. „Liebe auf den ersten Blick“, sagt Eva. „Liebe auf den ersten Blick“, wiederholt er. Heute ist Marcell 36 und immer noch mit Christine zusammen. Sie teilen sich ein Zimmer im Altersheim.

In der Gerechtigkeitsgasse 26 in Zürich-Selnau, zwischen Börse und Banken, gibt es seit einem Jahr ein Wohnhaus für Süchtige, „die zur Abstinenz nicht willens oder nicht fähig sind“, so erklärt es die Website des Zürcher Sozialdepartments. Begleitetes Wohnen City, heißt die Einrichtung. Wer in der Schweiz mit Suchtkranken zu tun hat, nennt sie „Altersheim für Junkies“.

Das Bewo City richtet sich an Menschen, die aus allem heraus gefallen sind. Keine nette Seniorenresidenz, bei der nur eben der Kaffeeklatsch mit Kokain bestritten wird. Es gibt hier keine Singgruppe, keinen Bastelabend. Hier wird auch nicht der verdiente letzte Lebensabschnitt mit Opiaten im Blut und Geranien auf den Balkons genossen. Hier leben Randständige. Menschen, die durch Sucht und Krankheit so beeinträchtigt sind, dass ihr Verhalten für jede andere Form von Gemeinschaft untragbar wurde.

Einmal am Tag geht die Psychiatriepflegerin Eva Vogelsanger durch das Haus – einmal am Tag Kontakt mit dem Personal ist eine der wenigen Bedingungen hier. Eva Vogelsanger schaut nach den Bewohnern, aber auch nach den Zimmern: Manche der „Klienten“, wie man sie hier nennt, schaffen je nach Betäubungslage den Weg zur Toilette nicht. Eine Bewohnerin glaubt, dass das Begleiterteam sie mit Strom „verstrahlen“ wolle und kotet deswegen zur Bestrafung auf den Boden. „Unser Alltag ist geprägt von Konflikten“, sagt Vogelsanger.

In Zimmer 102 steht die Tür offen. Drinnen, in einem hellen, freundlichen Raum steht Marcell vor seinem Bett, leicht vornübergebeugt, sein rechtes Auge ist geschwollen. Er hatte sich vor ein paar Nächten umnebelt den Kopf gestoßen. Dicke Stiche umranden jetzt seine Augenbraue. Marcell ist in der Bewegung erstarrt, er wartet darauf, dass seine Freundin ihre Stiefeletten zumacht. Von Christine sind nur die buschigen schwarzen Haare und ihr stark verkrümmter Rücken zu erkennen. Ihre Hände bewegen sich millimeterweise in Richtung Reißverschluss. Ihre lange Sucht hat beide extrem verlangsamt. Bei Christine so weit, dass sie heute fast zwanzig Zentimeter kleiner ist, als ihr Körper hätte wachsen wollen. Es ist zwei Uhr, die hellste Zeit der Bewohner der Gerechtigkeitsgasse.

„Ach, ihr wollt gerade los“, begrüßt Eva die beiden. „In die Stadt“, stößt Marcell hervor. In Ausflüge in die nahe gelegene Innenstadt zwecks Stoffbeschaffung investieren die Bewohner ihre meiste Zeit. Tags wie Nachts. Eva überredet Christine, doch einen Gürtel anzuziehen. Ihre Hüfte kann die Jeans nicht mehr halten. Als Eva den Gürtel vom Bett nimmt, kontrolliert sie schnell, ob in der Nacht neue Brandlöcher in die Matratze gekommen sind. Fixen darf man in seinem Zimmer, aber wer seine Zigarette nicht mehr selber halten kann, wird streng überwacht. Das Haus ist über hundert Jahre alt, ein Brand ließe sich kaum eindämmen.

Das Bewo City ist weniger ein Heim als ein unverbindlicher Zufluchtsort, an dem man bleiben darf – bis zum Lebensende. Deswegen der Spitzname „Altersheim“. In gewisser Weise sind die Junkies hier auch alt. Zwar nicht an Jahren, der jüngste ist 34, der älteste 78, und der Altersdurchschnitt liegt gerade mal bei fünfzig. Aber mit dem demografischen Wandel ändert sich auch die Vorstellung von „Alter“. In der Gerechtigkeitsgasse hat die Kategorie bereits eine andere Dimension erreicht. „Alt wird man auch durch soziale Probleme“, sagt Adrian Spinnler, der Leiter der Einrichtung. Den Begriff „Altersheim für Junkies“ schätzt er nicht. Aber er gibt zu: „Unsere Klienten sind alt, in dem Sinne, dass sie körperlich und psychisch eingeschränkt sind.“

Das Bewo City ist das Werk von Rolf Schuppli, dem Leiter des Bereichs „Wohnen und Obdach“. Es wurde aus seinem Arbeitsalltag geboren – die Klientel hier stammt aus anderen Einrichtungen des Sozialdepartments. Schuppli geht es nicht ums Gutmenschentum. Er hat Visionen, ist aber auch Realist. „Unsere Auftraggeber sind die Bewohner der Stadt Zürich“, sagt er. Jene, die bei ihm in den Einrichtungen unterkommen sind, aber auch die Menschen, die die Suchtkranken und Randständigen von der Straße weg haben wollen. Die Schweizer sind so konsequent bürgerlich, dass sie noch den krassesten Außenseitern zumindest den Ansatz eines geregelten Lebens ermöglichen wollen.

Die Sex & Drugs Generation kommt in die Jahre. Viele haben überhaupt nur so lange überlebt, weil man seit fünfzehn Jahren verstärkt mit verschiedensten Therapiemöglichkeiten gegen Sucht und Verbreitung angeht. Fünfzehn Menschen leben heute in der Gerechtigkeitsgasse. Mehr könnte man gar nicht kontrollieren. Einige sind klassische Alkohol- oder Heroinabhängige, manche leiden unter psychischen Störungen, einige haben auch mehrfache Beeinträchtigungen. Die wenigsten sind in ihrem Leben einer geregelten Tätigkeit nachgegangen. Sie bestreiten ihr Leben (wenn die Miete gezahlt ist) mit durchschnittlich achthundert Franken im Monat. Fast alle haben psychische Probleme, Verhaltensauffälligkeiten. Dazu kommen die Folgen ihrer jeweiligen Sucht: Hepatitis, Leberzirrhose, Aids.

Alter hat aber auch etwas mit Würde zu tun. Solange ein Mensch als jung betrachtet wird, hält man ihn für lernfähig. Man versucht, ihn zu ändern. Einen Kranken würde man auf den Weg der Besserung, der Reintegration in die Gesellschaft bringen wollen. Im Bewo City aber leben Menschen, die ein Leben voller gescheiterter Versuche, clean zu werden, hinter sich haben. Jetzt lässt man sie. „In der Schweiz betrachten wir das Selbstbestimmungsrecht des Menschen als eine zentrale Größe“, sagt der Stadtarzt Albert Wettstein. „Auch wenn es uns vielleicht nicht gefällt, was der Einzelne daraus macht.“

Dieses Recht gilt nicht nur für den, der sein Leben selbst in einem Schritt beenden will, sondern auch für den, der sich ratenweise mit Drogen vergiftet. Anders als in anderen sozialen Einrichtungen gibt es im Bewo City keinen Zwang zur Therapie mehr und keine Überprüfungen von Fortschritten oder Einklagen von Abmachungen. Das ist die Einzigartigkeit. Die Bewohner dürfen ihre Drogen in ihren Zimmern konsumieren. Sie dürfen fixen, saufen, sich mit dem betäuben, was auch immer ihre Sucht von ihnen fordert.

Das Bewo City ist genau vor einem Jahr eröffnet worden. Die meisten der ersten Generation leben noch in dem alten schönen Haus, das von außen wie ein durchschnittliches Wohnhaus für Besserverdiener aussieht. „Das erste Jahr ging erstaunlich gut“, sagt Adrian Spinnler sehr zufrieden. „Die Bewohner wissen, dass sie uns nicht linken dürfen.“ Das Team hat es ihnen in einem Jahr konsequenter Arbeit klargemacht. Eine Bewohnerin, die das nicht verstehen wollte, wurde ausgewiesen. „Aktionen“, nennt Spinnler die meist nächtlichen Aufstände der Hausbewohner und nimmt sie erstaunlich humorvoll. Noch am Wochenende gab es Streit: Ein Bewohner wollte seine Besucherin nicht, so wie es Vorschrift ist, um 22 Uhr verabschieden. Nächtlicher Besuch ist aber nicht gestattet: Sonst könnte man das Haus nachts nicht ruhig halten sowie Prostitution und Handel mit Drogen verhindern. „Es gab großes Geschrei“, sagt Eva Vogelsanger. Schließlich musste die Polizei die unwillige Besucherin mitnehmen. Dann gibt es Konflikte untereinander: Eine Bewohnerin beschuldigte eine andere, ihr Medikamente geklaut zu haben. „Ein tränenreiches Drama über Tage.“ Manche leihen sich Geld von den Zimmernachbarn und erinnern sich später nicht mehr dran. Letztens löste nachts um eins ein „TV-Süchtiger“ die Alarmglocke aus: Einer seiner Fernsehsender war gestört.

Heute, am 3. November, wird es ein kleines Geburtstagsfest dieses Orts geben, der außerhalb aller gesellschaftlichen Räume liegt. Ob die Bewohner mitfeiern? „Sie sind eher Einzelgänger, sonst wären sie ja nicht bei uns“, erklärt Spinnler. Das Fest ist auch mehr als Informationsveranstaltung für die Öffentlichkeit gedacht. Deren Toleranz ist für Rolf Schuppli sehr wichtig. Schließlich geht es um eine Verbesserung für die ganze Stadt. Seine Klientel braucht die Nähe zur Stadt und somit eine Nachbarschaft, die einen akzeptiert. Und schließlich kostet ein Heimplatz dreitausend Franken, von denen nur zweitausend von den Renten und Sozialversicherungen der Bewohner abgedeckt werden, den Rest übernimmt die Stadt und damit die Gemeinschaft.

Die Nachbarschaft ist nicht nur glücklich. Ein Artikel über das einjährige Bestehen des Projekts im Zürcher Tages-Anzeiger provozierte einen wütenden Leserbrief: Die Gerechtigkeitsgasse zierten „Reste von Erbrochenem und Urinpfützen“, „Junkies setzen sich auf offener Straße Spritzen“. „Fast in jeder Nacht verkürzen lautstarke Streitereien, psychotische Ausbrüche oder Gegröl den Schlaf“, schreibt Tamara Leifer.

Marcell kam vor siebzehn Jahren aus seinem Heimatdorf nach Zürich. „Die Drogen haben mich angelockt“, sagt er. Er war damals DJ. Sein größter und zugleich letzter Triumph war ein Auftritt auf der Zürcher Streetparade. „Da aufzulegen ist eine große Ehre“, bekräftigt Eva. „Energy ’96“ ist in großen Lettern auf ein Plakat an der Wand gesprüht. Seitdem ist es mit der Energie bergab gegangen.

1990 wurden im Kanton laut Statistik noch etwa 850 weitere Menschen heroinsüchtig – ein nicht wieder erreichter Rekord. Der Platzspitz, der Treffpunkt der Szene, sowie die tolerante Drogenpolitik in Zürich waren damals in der ganzen Welt bekannt. Als man den Park in Bahnhofsnähe noch in demselben Jahr räumte, grub man metertief in die Erde, um all die Spritzen rauszuholen, die sich dort in über einem Jahrzehnt gesammelt hatten.

Mit Christine wieder in einer eigenen Wohnung leben will Marcell nicht. Einmal musste er sie alleine lassen, als er in Haft war. „Da hat sie nur Chaos gemacht“, sagt er. „Wenn du alleine lebst, dann bist du wirklich alleine.“ Im Bewo City kümmern sich Eva und ihre vier Kollegen darum, dass er einen Arzttermin vereinbart, um die Fäden seiner Wunde ziehen zu lassen, und sie achtet darauf, dass Christine ihre Medikamente nimmt. Für die jeweiligen Drogen der Bewohner ist das Personal jedoch nicht zuständig: Wer fixt oder sich mit Methadon versorgt, tut das anderswo.

Auch für Roland ist die Begleitung durch das Personal am wichtigsten. Er sitzt auf dem Bett in seinem etwas karg, aber stilvoll eingerichteten Zimmer, auf einem kleinen Tischchen liegen Fotozeitschriften, neben dem Fernseher steht eine alte Kamera, ein Sammlerstück. Ein harter Gegensatz zum Zimmer im zweiten Stock, das voll von Plastiktüten und undefinierbaren Trash aussieht wie eine von einem Obdachlosen behauste Straßenecke. Roland vertreibt sich die Zeit mit Cartoons. „Hier lebe ich wieder in einem legalen Raum“, sagt Roland. „Ich muss mich nicht mehr verstecken.“ In seiner eigenen Wohnung gab es nur immer wieder Stress mit der Polizei. Wegen einer schweren Erkrankung war der 47-Jährige Anfang des Jahres sechs Monate in ein Pflegeheim gekommen, in dem er inmitten völlig Abständiger leben musste.

„Mich hatten sie schon abgeschrieben“, murmelt er etwas belustigt. Er hat sich aber wieder gefangen, seinen Körper, der ihm durch die Krankheit fremd wurde, bekommt er langsam wieder in den Griff. Auch wenn das Gehen ihm noch schwerfällt. Aber Roland wird wohl wieder ausziehen müssen. Er ist bald nicht mehr bedürftig genug.

Im zweiten Stock hat die neue Wohnsituation dem Kater Bandit bereits einen bürgerlichen Namen ermöglicht. „Benny“, ruft seine Besitzerin dem Tier hinterher, das aus dem Zimmer entwischt ist. Als sie den Besuch sieht, zieht sie aber schnell die Tür zu.

„Ich kann gerne einen Interviewtermin mit einigen der Bewohner ausmachen“, hatte Rolf Schuppli im Vorfeld gewarnt. „Es kann aber auch gut sein, dass sie ihn vergessen oder einfach zu Ihnen sagen: ‚Fuck you‘.“ Vor Ort sind dann zehn Bewohner einfach unsichtbar, und einer von denen, die sich interviewen lassen, kommt das ganze Gespräch lang von seiner hysterischen Alkoholikerlache nicht runter. Er paar Minuten lässt er Fragen über sich ergehen, starrt abwechselnd auf sein Gegenüber und auf die einzigen beiden persönlichen Gegenstände im Zimmer, ein Fernseher und ein Poster und beschließt am Ende, dass er die ganze Idee von einem Interview für die Zeitung „verschissen“ fände.

Renate Herold hat mit Publicity kein Problem. Im Gegenteil. Es sollen ruhig alle wissen: „Es ist wunderbar hier“, erklärt die 45-Jährige. Renate Herold ist Expertin für soziale Einrichtung, sie war einmal heroinsüchtig, jetzt hängt sie an Alkohol und Medikamenten. Wann sie zum letzten Mal alleine wohnte, weiß sie nicht mehr so genau. Aber wie es war, bevor sie zum Bewo City war, umso besser. „Es war schlimm“, erklärt sie und setzt sich in den großzügigen Korbstuhl in ihrem liebevoll eingerichteten Jungmädchenzimmer. „Dauernd klopfte jemand an die Tür und wollte irgendetwas, Zigaretten, Geld, was auch immer.“ Den ewigen Lärm hat sie nicht ausgehalten.

Das Bewo City macht am Nachmittag eher den Eindruck eines Studentenwohnheims – keine luxuriöse Einrichtung, Kochnischen auf dem Flur, leere Badezimmer, geputzt von einem sozialen Dienst, und ein scheußlich ausstaffierter und ungenutzter Gemeinschaftsraum. „Hier ist es supergut“, sagt Renate Herold und meint damit vor allem Eva, die sie in einer Mischung aus Skepsis und Belustigung anschaut. „Ja, ja“, amüsiert sie sich, „heute bin ich die Liebe.“ Renate nickt.

Neunzehn Zimmer hat das Bewo City, zwei davon sind Doppelzimmer. In einem wohnen Marcell und Christine, im anderen ein psychisch krankes Geschwisterpaar, die einzigen Nichtsuchtkranken des Nichtheims. Um die fünfzehn Bewerbungen für die letzten freien Plätze werden gerade geprüft. „Ein Assessmentcenter“, nennt es Spinnler. Sind die Bewerber kompatibel? Werden sie sich eingliedern in die Nichtgemeinschaft? Sind sie überhaupt berechtigt? Wer hier wohnen darf, muss mindestens zwei Jahre in Zürich angemeldet sein.

Noch sind die Bewohner alle Schweizer. Doch bald werden auch einige Randständige der Migrantenszene in einer ähnlichen Notlage sein. Wie werden dann die Kosten gedeckt? Mit jedem Jahr steigt das durchschnittliche Alter der Klientel des Sozialdepartments Zürich um knapp ein Jahr. 2006 waren die Männer und Frauen, die in den Notschlafstätten und Wohnprojekten unterkamen, im Schnitt 36 Jahre alt. Mit jedem Jahr wächst bisher auch der Bedarf an niederschwelligen Einrichtungen.

Eine der Herausforderungen, die im nächsten Jahr auf das Haus zukommen werden, ist vor allem die Frage, was mit den Bewohnern geschieht, die sich hier eingelebt haben, die aber dennoch weiter körperlich abbauen. „Wir haben bei der Auswahl unser Klienten darauf geachtet, dass sie Selbständigkeit mitbringen. Wie verhalten wir uns, wenn sich hier jemand eingefügt hat, aber zunehmend pflegebedürftig wird?“, fragt sich Rolf Schuppli. Für Christine wird diese Frage demnächst dringlich.

Das einzige erklärte Therapieziel der Einrichtung ist es, die Bewohner zu stabilisieren. Das klingt nach sehr wenig. Doch die Stabilität bedeutet hier viel. Dem hysterisch lachenden Alkoholiker gelang es, zwei Monate nicht zu trinken. „Er war ein komplett anderer Mensch“, erinnert sich Eva. Sie drängte darauf, dass er eine Therapie mache, das Haus verließe. Er wollte nicht.

HEIKE GRASSER, Jahrgang 1972, ist Fotojournalistin mit den Schwerpunkten Porträt und Reportage. Sie lebt in Zürich JUDITH LUIG, Jahrgang 1974, ist Redakteurin im taz.mag und schreibt bevorzugt über Parallelwelten. Sie lebt in Berlin