Nie mehr!

235 maritime Kurzgeschichten hat der mare-taz-Literaturwettbewerb erbracht. Mit dem Abdruck von Platz fünf bis eins beginnt die taz heute. Eine Geschichte von Huug van‘t Hoff

Wenn wir jetzt behaupteten, wir hätten die 235 Geschichten nicht erwartet, die wir auf unsere Kurzgeschichten-Ausschreibung hin bekommen haben, wäre das natürlich gelogen. Wie viele auch immer: Die Lektüre war ein großes Vergnügen. Von alten Herren – ob nun ganz bei Trost oder nicht –, von Ertrinkenden, vom Krieg und vom am Meer betrauerter Liebe handelten die Geschichten. Manche sind melancholisch, manche ironisch, andere professionell gedrechselt bis kühl. Die Jury – bestehend aus den Mare-Redakteuren Nikolaus Gelpke und Karl Spurzem sowie den taz-RedakteurInnen Henning Bleyl und Petra Schellen – stritt sich dann auch redlich. Und stellte überrascht fest, dass Altherren-Geschichten eher den Herren munden. Aber, kleiner Trost, einige von ihnen waren auch gut. Jedenfalls die, die gewonnen haben. Die ersten der fünf Gewinnergeschichten, von denen drei zusätzlich Geldpreise erhalten, drucken wir heute. Ihr Autor, Huug van‘t Hoff, wurde 1972 geboren und lebt in Hamburg. Er ist an der Ostsee aufgewachsen und hat an der Nordsee gelebt. Van’t Hoff ist Ex-Buchhändler, Soziologe und promovierter Literaturwissenschaftler. Gemeinsam mit Ella Marouche schreibt er Drehbücher und Theaterstücke. Im März soll ihr Buch „Wildwestschau“ erscheinen, eine Gesellschaftssatire über den RAF-Komplex. Die Plätze vier bis eins werden an den folgenden Samstagen erscheinen. Platz eins wird zudem im Mare-Dezemberheft gedruckt. Die taz bringt den Siegertext am 1.12. Die Preise vergeben wir in einer Lesung mit Musik am 2.12., 19 Uhr, im Feuerschiff im Hamburger Hafen (Einlass 18 Uhr). Wir laden herzlich ein! Die Jury

Neulich* traf ich Kalle Jacobsen wieder. Das mag recht zufällig klingen, war es aber nicht. Noch nie. Ich gehe regelmäßig an den Ort, an dem er anzutreffen ist, wenn er zu finden sein will.

Der Stammplatz ist eine himmelblaue Parkbank auf dem Deich, gleich neben dem großen Siel. Kalle liebt das Meer und seine Geheimnisse. Er ist der Weltenbummler, der Abenteurer, der Marco Polo, der Eldorado-Friese unseres Dorfes, immer auf der Suche nach dem großen Schatz. Er ist der Dorftrottel, der Spinner, der Eremit. Der Sonderling, der wohl zu jeder kleinen Gemeinde gehört. Unstet getrieben, tagelang wie vom Erdboden verschluckt, taucht er anderntags an bekanntem Ort wieder auf, um den vorbeiziehenden Bürgern laut und dennoch unverständlich seine Geschichten vorzumurmeln. Einige verstört das wirre Gemurmel, so manch wohlbehütende Mutter gar so sehr, dass sie ihre Kinder rasch von ihm wegzieht, bevor sie voller Neugier und Interesse zu ihm laufen können. Die meisten jedoch schreiten einfach kopfschüttelnd und mit überheblichem Lächeln zügig an ihm vorüber. Nur wenige, vor allem direkte Nachbarn, verbinden ihr Eilen mit einem kurzen Gruß. Kaum einer ruht sich auf der Bank aus, wenn er dort sitzt.

Aber von alldem scheint Kalle nichts zu merken, sein Leben spielt im Meer. Wenn er groß, hager, blond und mit wettergegerbtem Gesicht auf seiner Bank sitzt, schweifen die Augen ziellos über den Horizont, während seine Gedanken bei den großen Schätzen sind, die hinter, unter, auf und über diesem Meer für ihn verborgen liegen. Irgendwann wird er einen finden und dieses enge öde Dorf als reicher Held endlich verlassen können. Dann verschwindet er plötzlich, für Tage und Wochen, bis er von Neuem auftaucht, um von seinen Erlebnissen zu murmeln. Und wenn niemand ihm zuhört, so erzählt er sie trotzdem. Immer und immer wieder.

Diese neuen sagenhaften Anekdoten sind es, die mich täglich neugierig zum Deich laufen lassen. Wie traurig, ihn nicht zu treffen, und welch Freude, wenn mir sein Gemurmel vom Wind schon früh über den Deich zugetragen wird. Ob er sich wieder durch das Schelfeis bis zum Südpol lecken musste, um mit seiner Zunge vergeblich nach winzigen Goldpartikeln im Eis zu suchen? Ob er abermals den Atlantik schwimmend überquerte, eine ferne Küste mit den Fingern metertief durchpflügte und jeden Stein durchbiss, um keinen der Schiffwracks übelklingender Piratenkapitäne zu finden? Oder ob er erneut auf dramatischer Jagd nach Platinfischen, die er nie erwischte, von Friesland bis nach Grönland tauchte? Kalle ist mein vager Held. Egal, ob nun Phantasie, Wahrheit oder mit Phantasie aufbereitete Wahrheit, seine Geschichten sind mein Leben und bringen mich täglich ans Meer.

Neulich traf ich Kalle Jacobsen wieder. Er saß auf seiner Bank, murmelte vor sich hin und blickte über das abtidende Watt.

»Moin Kalle«, begrüßte ich ihn, wie stets, wenn ich ihn traf.

Kalle sah kurz auf, als ich mich setzte, nickte, ohne das weite Watt aus den Augen zu lassen und gab meinen Gruß zurück, ohne die Lippen zu bewegen, so dass lediglich ein »Mn!« zu hören war.

»Wo warst‘n so?« Das war unser Code de Mär, die unverblümte Bitte nach seinem neuesten Bericht. Und wenn ich es auch sicher schon hundert Mal geübt hatte, so fiel es mir doch stets von Neuem schwer, Kalles erste Worte sofort zu verstehen. Wie beim Gruß sprach er, ohne die Lippen zu bewegen. Touristen, die Kalle zum ersten Mal hörten, schrieben diese nasal gebrummten Konsonanten sicher dem Wind zu. Aber, wie ich schon früh erfahren durfte, sie bekamen schnell einen Sinn, wenn man sich nur ein wenig Zeit ließ und entspannt über den Deich auf das Meer sah. »Wrrrmmmrrtrrwwwmmmmnnnnsssllltttkrrrr...« Die ersten Töne waren auch für mich nur Brummlaute. Der Fehler war, nach sinnvollen Verbindungen zu suchen. Das wusste ich und versuchte mich zu entspannen, indem ich zur Sonne sah, die rot über den dünnen, sandigen Wattwellen unterging. Langsam gebar das meditative Gemurmel neben mir eine neue Geschichte. »... mtm gtn flss knn mn gt bs schttlnd km, sgch dr, ...« Nach Schottland führte ihn die letzte Schatzsuche, in die Lochs, wo haushohe Ungeheuer in versteckten Unterwasserhöhlen das Gold der Clans bewachten, die es dort vor den Plünderungen der nahen und fernen Nachbarn verborgen hielten. Eines dieser Verstecke verriet ihm eine verirrte Highlandmöwe, aus Dankbarkeit, weil er ihr beim Heimweg geholfen hatte. Den Teil mit der Möwe kannte ich bereits, da ich ihn damals auf dem Deich traf, als er an dem Floß baute, mit dem er, scheint‘s, tags drauf in See gestochen war. Bald schon, so sein Bericht, war er am Loch und prompt dem Ungeheuer begegnet. Todesmutig hätte er mit dem Floß das abscheuliche Ungeheuerriesenmaul blockiert und wäre sofort in die Höhle getaucht. An dieser Stelle verstummte Kalle abrupt, atmete tief ein und blies die Luft theatralisch wieder aus.

»Und?« Ich fragte nach, auch wenn ich das Ende bereits ahnte. Wie gewöhnlich zog er mit einer Geste zwischen Gleichmut und Entschuldigung, wie ich sie nur von ihm kenne, die Schultern hoch und schnaufte mit einem abfälligen Stöhnen alle Ungerechtigkeit der Welt in den Wind. »Nchts! Chstz mDch!«

»Und nu‘?« Auch das gehörte zu unserem Ritual. Normalerweise begann er daraufhin, sofort von einem vielversprechenden Hinweis eines Wesens zu berichten, das er beim letzten Mal getroffen hatte. Diesmal tippte ich auf das Ungeheuer des schottischen Lochs.

»Cnnr ds Nghrr vrrt mr ...« Ich hatte Recht behalten. Conner, so hieß das Wesen, dem Kalle sein Floß ins Maul gestopft hatte, nahm ihm diese Aktion gar nicht übel, war sogar im Gegenteil dankbar, dass dieser, ganz ungeheuer freundlich, ihm half, das Floß wieder aus den Zähnen zu bekommen. Holzsplitter im Zahnfleisch seien auch bei Riesenmäulern äußerst schmerzhaft. Na, und Conner verriet Kalle, warum die Höhle leer war. Schon vor Dekaden hätten die Letzten des Clans sie leer geräumt, um nach Amerika zu emigrieren, dort ihr Glück zu suchen und alles in einer Nacht in Las Vegas zu verspielen. Wieder eine vergebliche Suche also. Aber, um Kalles offensichtlichen Frust zu besänftigen, hätte Conner einen Tipp für ihn gehabt. Milliarden Tonnen von Schätzen, die Ladung aus Jahrhunderten in Stürmen gesunkener Schiffe, von Händlern wie von Piraten, lägen am Grund des Atlantiks. Kalle nickte bei Verkünden dieser Nachricht gierig mit goldfunkelnden Augen.

»Na, dat ward wohl nix wer‘n!« Wie bei jedem unserer Treffen wollte ich auch diesmal das Gespräch mit der gleichen Floskel beenden und Kalle mit einem kurzen freundschaftlichen Schulterklopfen und aufmunterndem Nicken auf der blauen Bank auf dem Deich mit seinen Gedanken stumm und einsam zurücklassen.

Neulich kam es anders.

Kalle ist der Weltenbummler, der Abenteurer, der Eldorado-Friese unseres Dorfes, immer auf der Suche nach dem großen Schatz

»Doch«, rief Kalle überraschend verständlich und stand als erster auf. »Ich trinke den Ozean einfach aus, pack mir die Schätze und verschwinde!« »Kalle«, brüllte ich ihm hinterher, als sein forscher Gang bereits vom Watt gebremst wurde. Später ärgerte ich mich, keinen besseren Einwand parat gehabt zu haben. Ob für Kalle oder für mich, weiß ich nicht. »Es is‘ Ebbe!« »Och«, stöhnte Kalle auf und drehte sich zu mir um. »Meinst du wirklich, ich will dieses verdammte Scheißmeer austrinken, wenn das ganze Wasser da ist. Bei Flut, oder was?« Kalle schlug sich lachend gegen die Stirn, winkte ab, drehte sich um, brummte Unverständliches und marschierte schlurfend übers schlickige Meer davon.

Seit Kalle im Watt verschwand, sitze ich täglich auf der Bank und warte. Aber ich glaube, diesmal wird er nicht mehr zurückkehren. Acht Tage gab es kein Wasser an unserer Küste, und am neunten Tag kam die Flut grüner als gewohnt zurück.

Ich überlege, das Dorf zu verlassen. Ab in die Stadt! Ohne Sehnsucht. Nur das Meer werde ich vermissen. Und Kalle!

* ndt. Begriff für einen absolut unbestimmten Zeitpunkt, der zwei Tage bis zu zwei Monate in der Vergangenheit liegt.