„Die internationale Gemeinschaft versagt“

KRITIK Selmin Caliskan, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, über die Zunahme von bewaffneten Konflikten nichtstaatlicher Akteure und die Rückschritte beim Menschenrechtsschutz

■ ist seit März 2013 Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland. Zuvor arbeitete sie für Medica Mondiale und für die European Women’s Lobby in Brüssel.

taz: Frau Caliskan, ist der neue Jahresbericht mit den Worten „Alles wird immer schlimmer“ richtig zusammengefasst?

Selmin Caliskan: Ich fand auch den Bericht 2013 schon sehr ernüchternd. Aber in der Zwischenzeit gibt es eine Zuspitzung von bewaffneten Konflikten um uns herum: In 35 der 160 Länder, über die wir berichten, finden derzeit bewaffnete Konflikte statt – zum großen Teil unter Beteiligung nichtstaatlicher Akteure, Milizen, Terrorgruppen, Freiwilligenbataillone wie in der Ostukraine. Wir prangern vor allem an, dass die Zivilbevölkerung allein gelassen wird, sowohl von dem eigenen Staat wie von der internationalen Gemeinschaft, die nichts tut und wegschaut.

Ist es für Amnesty Neuland, sich mit nichtstaatlichen Akteuren zu beschäftigen? Erscheinen deswegen die Forderungen aus dem aktuellen Bericht so hilflos?

Vielleicht sind die Möglichkeiten auch einfach begrenzt.

Aber in Ihrer Pressemitteilung heißt es, die Regierungen sollten „aufhören, so zu tun, als seien sie nicht in der Lage, die Zivilbevölkerung zu schützen“.

Die Staaten haben Gesetze und sind an internationale Verpflichtungen gebunden. Der nigerianische Staat zum Beispiel exekutiert Menschen auf der Straße, weil er sie zu Boko Haram zählt. Tausende werden in Polizeigewahrsam ermordet und gefoltert. Und natürlich ist der Staat nicht zu solchen Verbrechen berechtigt, nur weil er im eigenen Land Terroristen bekämpft.

Aber Sie beklagen doch ein Versagen der internationalen Gemeinschaft. Was tun?

Wir fordern, dass die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates ihr Vetorecht in Fällen von Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit freiwillig aufgeben, damit der Sicherheitsrat wieder handlungsfähig wird.

Halten Sie diese Forderung für irgendwie realistisch?

Ich weiß es nicht. Aber 40 Mitgliedsländer der UN-Generalversammlung halten das für richtig. Das ist ein Ansatzpunkt, um die Blockadehaltung des UN-Sicherheitsrates zu beenden. Man muss die fünf ständigen Mitglieder daran hindern, nur aus ihren eigenen wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen heraus zu agieren.

Nehmen wir einmal an, die ständigen Mitglieder verzichteten im Sicherheitsrat tatsächlich auf ihr Vetorecht und eine Mehrheit verabschiedet eine Resolution nach Kapitel 7 zum Schutz der Zivilbevölkerung in Irak und Syrien. Sind Sie dann für Militärintervention?

An dem Punkt ist Amnesty noch nicht. Wir haben das Mandat zur Intervention in der Zentralafrikanischen Republik unterstützt, aber auch das war eine quälende Debatte. Es gibt nicht nur die Militärinterventionen, vorher könnte der Sicherheitsrat zu gezielten Sanktionen greifen und den Fall an den Internationalen Strafgerichtshof verweisen, aber auch das hat im Fall Syriens das Veto von Russland und China verhindert.

Ist Amnestys Bemühen um den Aufbau internationaler Rechtsnormen heute gescheitert?

Wir müssen mehr Druck auf bestehende staatliche Strukturen ausüben, damit sie ihrer Schutzverantwortung nachkommen. Es ist doch heute viel zu leicht, sich mit Nichtstun davonzustehlen. Niemanden scheint richtig zu interessieren, wenn Menschen umgebracht werden und Millionen auf der Flucht sind. Als hockten wir hier auf irgendwelchen Friedensinseln.

Sie fordern von Deutschland sehr griffig, „Rechtsstaat statt Rüstung“ zu exportieren. Was soll das denn heißen?

Deutschland hat große Kompetenzen im Bereich der zivilen Krisenprävention – aber wir setzen sie kaum ein. Stattdessen exportieren wir Waffen in alle Welt. Da braucht es einen Paradigmenwechsel.

INTERVIEW BERND PICKERT