Die Mordlust des Kindes

Wenn das gesungene Drama die eigene Seele öffnet: Die Elektra der Sängerin Jeanne-Michèle Charbonnet an der Deutschen Oper. Inszeniert von der Intendantin Kirsten Harms in einer musikhistorisch interessanten Doppelpremiere

Die Sängerin Jeanne-Michèle Charbonnet, trotz ihres französischen Namens Amerikanerin, scheint es selbst kaum fassen zu können. Sichtlich erschöpft und am Ende ihrer Kräfte tritt sie vor den Vorhang, blickt ängstlich in den noch dunklen Saal. Sehen kann sie nichts in diesem Augenblick, der alles entscheidet, aber es ist trotzdem wahr: Applaus, richtig donnernder, ehrlicher Applaus braust ihr entgegen. Sie weiß nicht, wohin mit den Armen, blickt zur Seite, nach oben, irgendwie gelingt ihr dann doch eine Verbeugung und ein verlegenes Lächeln. Sie dankt dem Orchester, danach steht sie etwas sicherer auf ihren Beinen, und zurückgekehrt in die Wirklichkeit glaubt sie es nun auch selber: Sie war Elektra, eineinhalb Stunden lang ohne Pause und nicht nur für sich in ihrer künstlerischen Fantasie, nein, sie war es auch für die Leute da draußen in dieser Nacht des riesigen Opernhauses.

Es ist immer schön, wenn Opernaufführungen so enden, und besonders schön, wenn es an der vielgescholtenen Deutschen Oper Berlin einmal so ist. Spontan möchte man danken, weil die Magie des gesungenen Dramas die eigene Seele geöffnet und Leidenschaften gezeigt hat, die wir zwar gut kennen, aber niemals selbst ausdrücken können. Nun kehren sie als Kunst zurück, werden begreifbare Form wie eben bei Jeanne-Michèle Charbonnet, die eine Elektra noch über all das hinaus ist, was der immer etwas bayerisch-brachiale Richard Strauss in die Noten schrieb.

Gewiss lässt er sie rasen vor Wut und Hass auf die Mutter Klytemnästra, die ihren Vater erschlug, aber im Grunde liebte er sein prachtvolles Orchester mehr als die verletzte Seele dieses Mädchens. Erst Charbonnet zeigt auch sie, sie steigert sich in blutrünstige, sadistische Mordfantasien hinein, wie es nur Kinder können, und lässt verstehen, warum Hugo von Hofmannsthal Freuds Studien über Hysterie auf dem Schreibtisch liegen gehabt haben soll, als er für Strauss das Libretto schrieb. Ihre Elektra ist die Regression einer Frau, die ja tatsächlich nie erwachsen werden konnte, weil man sie in den Hinterhof des Königshauses verbannt hat. Nichts an ihr ist mythisch oder dämonisch, es ist normal, dass dieses alt gewordene Mädchen nicht verstehen kann, was die Schwester Chrysothemis meint, die das Leben einer Frau führen möchte. Manuela Uhl singt diese Rolle mit ebenso großem Verständnis für die psychologische Theorie, die dem auch bei ihr fröhlich drauflos prunkenden Strauss vermutlich ziemlich fremd war. Verdienter Applaus daher auch für sie, natürlich auch für den Dirigenten Leopold Hager, der das Orchester mit respektvoller Klarheit durch die Klangmassen von Strauss führt.

Lächelnd und ein wenig verlegen nahm schließlich auch die Intendantin Kirsten Harms den Dank für ihre Regie entgegen. Noch eine Katastrophe hätte vermutlich das Ende ihrer Amtszeit eingeläutet. Aber alles ging gut, sie hat wenig spektakulär, aber einleuchtend die sonst leicht überhörbare Tiefe dieses vielgespielten Einakters ausgelotet und ihn darüber hinaus in einen interessanten, musikhistorischen Zusammenhang gestellt, indem sie vor der Pause eine Kurzfassung der „Cassandra“ von Vittorio Gnecchi spielen lässt. Dieser 1876 geborene Spross des Mailänder Geldadels konnte es sich leisten, für seine Oper Puccinis Librettisten Luigi Illica zu engagieren. Trotz dieses Beistandes brachte ihm das 1904 unter Toscanini uraufgeführte Werk kein Glück. Gnecchi wurde als hoffnungsloser Dilettant verschrien.

Ob Strauss diese „Cassandra“ kannte, ist unsicher. Natürlich ist das dramatisch perfekt ausgewogene Werk von Strauss (und Hofmannsthal) Gnecchis Versuch, eine antike Tragödie in Musik zu übersetzen, weit überlegen. Dennoch lohnt es sich sehr, der wild dahersprudelnden Musik dieses Amateurs zu lauschen. Auch er liebte mächtige Klangmassen mit vollem Chor, so sehr manchmal, dass von den Solostimmen, die da auch noch hineinverwoben sind, nichts mehr zu hören ist. Dilettantisch zweifellos, aber reizvoll in der nahezu sinnfreien und stillosen Lust am schönen Ton, die man heute als Dekonstruktion schätzen könnte. Um dieses seltsame Genie wirklich wieder auf die Bühne zu bringen, wäre aber wohl mehr nötig als die Axt, die Kirsten Harms der Klytemnästra in die Hand gibt, damit sie ihren Agamemnon erschlagen kann.

NIKLAUS HABLÜTZEL

Deutsche Oper, nächste Vorstellungen: 8., 16. 11. 2007