Virtuelle Mobilmachung

Mit dezentralen, via Internet koordinierten Protestaktionen versuchen BürgerrechtlerInnen heute auch im ganzen Norden, die von der Bundesregierung geplante Speicherung aller Telekommunikationsdaten doch noch zu verhindern

In Aurich gibt es von 9 bis 13 Uhr zunächst einen Infotisch in der Fußgängerzone, aus Anlass der Wochenmarktes, auch in Oldenburg findet an der Ecke Lange Straße/Achternstraße zwischen 17 und 19 Uhr eine Infoveranstaltung statt. In Hamburg gibt es ab 17.30 Uhr eine Kundgebung vor dem Rathaus mit allerlei Ansprachen, 18.45 Uhr ist eine Mahnwache geplant. In Kiel treffen sich die Protestierenden um 17.30 Uhr auf dem Rathausplatz. In Bremen wird ab 17 Uhr auf dem Marktplatz am Roland demonstriert. In Osnabrück beginnt bereits um 16 Uhr eine Kundgebung am Nikolaiort. Göttingen meldet eine Mahnwache ab 17.30 Uhr am Marktplatz vor dem Alten Rathaus. In Rostock ist ab 17 Uhr eine Demonstration auf dem Universitätsplatz angesetzt. Mangels Beteiligung vorerst abgesagt hingegen, ist ein geplanter Demonstrationszug vor der virtuellen SPD-Zentrale auf der Plattform „Second Life“. TAZ

VON JAN ZIER

Mit Kundgebungen in Hamburg, Bremen, Göttingen und Osnabrück protestieren DatenschützerInnen und BürgerrechtlerInnen aus ganz Norddeutschland heute gegen die von der Bundesregierung geplante so genannte „Vorratsdatenspeicherung“ aller Telefon- und Internetverbindungen. Insgesamt sind von Aurich bis Wetzlar Aktionen in mehr als 40 Städten in der ganzen Republik geplant. Der Hintergrund: Am Freitag will der Bundestag über ein Gesetz entscheiden, demzufolge ab 2008 jeweils sechs Monate lang gespeichert wird, wer wann mit wem über Telefon, Handy oder E-Mail in Kontakt stand. CDU/CSU und SPD erhoffen sich davon neue Möglichkeiten der Verbrechensbekämpfung, KritikerInnen hingegen sehen in dem Gesetz einen „verfassungswidrigen Generalangriff auf Bürgerrechte und Datenschutz“.

Geplant sind Aktionen vor Rathäusern und Behörden in einer „Kernzeit“ von 17 bis 19 Uhr. Hinter dem Protest steht indes kein klassisches Bündnis großer Organisationen und Parteien, sondern ein dezentrales Netzwerk, welches sich vor allem via Internet organisiert – dem Medium also, das sich besonders gefährdet sieht. Koordiniert wird die Aktion vom „Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung“ (AK Vorrat), einem Zusammenschluss aus Einzelpersonen, der weitere UnterstützerInnenkreis variiert von Ort zu Ort. In Hamburg etwa ruft das globalisierungskritische Netzwerk Attac zu der Kundgebung auf, gemeinsam mit der Piratenpartei und der Grünen Jugend, anderswo ist es beispielsweise die Gewerkschaft Verdi, der Chaos Computer Club, die Linkspartei oder Berufsvereinigungen der potentiell Betroffenen – etwa die Freie Ärzteschaft, der Republikanische Anwaltsverein, der Bund Deutscher PsychologInnen oder der Verband der Zeitungsverleger. Ortsgruppen des AK Vorrat gibt es unter anderem auch in Braunschweig, Wolfsburg, Oldenburg und Kiel, im Landkreis Harburg sowie in Ostfriesland.

Mit dem umstrittenen Gesetz will die Bundesregierung eine Richtlinie der EU umsetzen, die das Europaparlament bereits vor zwei Jahren passiert hat. Sie enthält die Möglichkeit, alle Telekommunikationsdaten bis zu 24 Monate zu speichern. Grundsätzlich nicht ausgewertet werden sollen dabei Daten von Abgeordneten, Geistlichen und StrafverteidigerInnen, für andere GeheimnisträgerInnen wie JournalistInnen, ÄrtztInnen, PsychologInnen oder sonstige AnwältInnen sind vor einer Datenauswertung richterliche Einzelfallprüfungen auf Verhältnismäßigkeit vorgeschrieben. Der Verband der Informationswirtschaft Bitkom hat errechnet, dass allein die Verkehrsdaten eines größeren Internetproviders pro Jahr bis zu 40.000 Terrabyte umfassen – das entspricht etwa 40 Kilometern gefüllter Aktenordner. Bitkom hat zwar keine datenschutzrechtlichen Bedenken, fordert jedoch Entschädigung für die von ihm auf 75 Millionen Euro bezifferten Investitionskosten ein. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar hingegen sprach von einer „Art Generalverdacht für jeden Bürger“.

Gegen die Vorratsdatenspeicherung ist bereits eine Klage aus Irland vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig. Hinzukommen soll nach dem Willen des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung die „größte Verfassungsbeschwerde in der Geschichte der Bundesrepublik“. Sie wird ebenfalls via Internet koordiniert – bislang sind rund 7.000 Vollmachten potenzieller KlägerInnen zusammen gekommen. Die Verbindungsdaten sind sensibel, Zugriffe darauf ein schwerer Eingriff in das Fernmeldegeheimnis, entschieden die Karlsruher VerfassungsrichterInnen schon 2003 – und verlangten angesichts „intensiver Grundrechtseingriffe“ einen „konkreten Tatverdacht“. Den aber setzt der „Gesetzentwurf zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung“ nicht generell voraus. KritikerInnen verweisen zudem auf ein Gutachten des Bundeskriminalamtes, demzufolge die Aufklärungsquote von Verbrechen durch die Datenspeicherung nur um 0,006 Prozent steigen werde.

Schleswig-Holsteins Datenschutzbeauftragter Thilo Weichert fordert von der Bundesregierung, zunächst Abstand von ihrem Vorhaben zu nehmen: Zunächst solle abgewartet werden, wie der EuGH über die dem Gesetz zugrunde liegende EU-Richtlinie entscheide. Die klagende irische Regierung zweifelt die Zuständigkeit Brüssels an.

Die Protestierenden wollen sich jedoch nicht nur auf die Gerichte verlassen. Für Mittwoch und Donnerstag planen sie eine „Online-Demonstration“, bei der Webseiten entweder ganz in Schwarz oder aber mit Traueranzeigen erscheinen, der Donaukurier aus Ingolstadt erschien bereits am Wochenende aus Protest mit einer geschwärzten Titelseite – und erntete dafür überwiegend positive Reaktionen.

Alle Infos laufen unter http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de zusammen