Komplexe Stadtmusikanten

THEATER Altersempfehlungen leiden oft unter den Einnahmeerwartungen

Weihnachtsmärchen sind die wirtschaftlich wichtigsten Inszenierungen des Jahres

Ökonomisch gesehen sind sie die mit Abstand bedeutendsten Inszenierungen des Jahres: Die sogenannten Weihnachtsmärchen, die in der ersten Novemberhälfte beginnen und nicht vor Mitte März des darauf folgenden Jahres enden. In den vergangenen Jahren konnte man unter anderem am Goetheplatz eine stetige Ausdehnung der Märchen-Saison beobachten: Insbesondere in der Ära Frey wurde sie von Spielzeit zu Spielzeit länger und taugte insofern als Krisenindikator.

Die Wichtigkeit des Weihnachtsmärchens – mittlerweile „Stück für die ganze Familie“ genannt – für die Theaterfinanzen spiegelt sich auch in den Altersempfehlungen. Sagt man „ab sechs“, wie jetzt bei den „Bremer Stadtmusikanten“, kommen sämtliche Bremer Grundschüler als Kunden in Betracht. Jede Verschiebung um ein Jahr nach oben kostet ganze Jahrgänge. Inszeniert man jedoch ernsthaft für die Kleinen, kann das wieder die älteren Schulklassen von einem Besuch abhalten.

Verlierer in dieser durch das Primat der Ökonomie erzeugten Zwickmühle sind die Jüngeren. Im Fall der „Stadtmusikanten“, am Sonntag am Goetheplatz uraufgeführt, sehen sie zwar ein sehr intelligent erweitertes und brillant inszeniertes Märchen – verstehen können sie in ihrer großen Mehrheit jedoch nur einen Teil der Story. Denn dafür müssten sie das System von Castingshows und Bandcontests kennen, kapieren, welchen Coup die Räuber landen: Sie machen sich zu den Managern der musikwilligen Tiere, präsentieren sie als die „Crazy Singing Animals“, unter Ausschluss der Katze übrigens. Kennt man als Sechsjähriger die Container- oder Dschungelcamp-Rauswählsendungen? Regisseur Karsten Dahlem setzt detailliertes Wissen um die mediale Realität voraus, deren Dynamik er so vehement wie berechtigt kritisiert.

Positiv gewendet: Mit der konzeptionellen Weiterentwicklung der „Stadtmusikanten“ durch Dahlem und die Dramaturgin Diana Insel bestätigt das Bremer Theater den schon im vorigen Jahr bei Dahlems „Ronja“ zu beobachtenden Kurs, mit dem „Weihnachtsmärchen“ wirklich etwas zu wollen: Verzauberung, aber auch intelligente Unterhaltung, gar Aufklärung – ein deutlicher Unterschied zu Dirk Böhlings vornehmlich illustrativen Weihnachts-Inszenierungen in der Frey-Zeit.

Perfekt – für alle Altersgruppen – ist die Inszenierung der Tiere. Sie lernen sich als Tramper an der Autobahn kennen, und schon die schwierige Einigung auf einen Zielort namens Bremen gibt dem Quartett geniale Gelegenheiten, die divergierenden Charaktere auszuspielen. Selten sieht man so gut gespielte Tiere. Unterm Strich: Eine tolle Inszenierung – vor allem für Kinder ab neun. HENNING BLEYL