ZURÜCK IM VERKEHR
: Die Muse schweigt

Es wurde nicht mal in die Ecke gekotzt

Um ehrlich zu sein, hatte ich mehr von ihr erwartet. Als hätte sie meine Ablehnung vergangener Tage nicht im Geringsten gejuckt, präsentierte sie sich schamlos und heruntergekommen wie eh und je in der Öffentlichkeit. Einige Zeit hatten wir jetzt keinen Kontakt mehr, und nun war ich erschüttert, als ich sie genauso vorfand, wie ich sie damals verlassen hatte: laut, stinkend, viel zu voll.

Trotzdem oder sogar deswegen bestieg ich sie. Als die Türen jaulend zuflogen, wusste ich wieder, wieso: Sie ist eine Muse. Voller verrückter Geschichten und Inspirationen. Während sie sich durch den Untergrund schlängelt, erlebt man Einzigartiges. Ich erinnerte mich an den Studenten, der kein Fahrradticket dabeihatte und deswegen die Fragen der Kontrolleure nach dem Besitzer seines Fahrrads ignorierte. Ein freundlicher Herr stand auf, zeigte sein „Premium-ich-darf-alles-mitnehmen“-Ticket und beanspruchte, aus reiner Freundlichkeit dem armen Studenten gegenüber, das Fahrrad für sich. Dieser war schwer verdutzt angesichts einer solchen Masse an Solidarität, reagierte mit Empörung und zahlte daraufhin 40 Euro fürs Schwarzfahren. Oder der Kontrolleur, der mich mitnehmen wollte, weil das zweite Ticket für mein Hollandrad kein ermäßigter, sondern ein regulärer Fahrschein war. Zu viel zu bezahlen war seiner Meinung nach ein ebenso gravierendes Verbrechen wie zu wenig zu bezahlen.

Aber nun geschah nichts dergleichen. Kein Kind weinte, niemand fluchte über lange Wartezeiten, es wurde nicht mal in die Ecke gekotzt. Vielleicht würde sich wenigstens irgendein Junkie neben mir einen Schuss setzen? Stattdessen Totenstille. Die Bahn hielt planmäßig dort, wo sie halten sollte, und die Menschen saßen mit gesenktem Kopf im Abteil. Sie wischten über ihre Telefone, als ginge es darum, ein Curling-Spiel zu gewinnen.

JURI STERNBURG