MIT UND OHNE JACKE IM WETT-CAFÉ, BEI DER TRAUERFEIER VON FRIEDRICH KITTLER UND IM KAFFEE BURGER
: Irgendwo ist immer Fußball

VON MICHAEL BRAKE

Ich bin auf der Trauerfeier von Friedrich Kittler und finde meine Jacke nicht. Es ist ein Uhr morgens, die meisten Gäste sind schon gegangen, vor mir tanzen Menschen in Anzügen (nur C. hat die ganze Zeit seine pelzbesetzte 400-Euro-Jacke an, er hat sie auf eBay für einen Euro geschossen, es ist irre) zu Prince, The Streets, Nancy Sinatra, so ausgelassen-exaltiert, wie man es sonst nur um fünf Uhr morgens bei privaten Silvesterfeiern sieht. Reinigung von zehn Stunden Trauerarbeit vermutlich. Und ich finde meine Jacke nicht.

Aus Verlegenheit gehe ich auf Toilette, es riecht nach Katzenklo. Das passiert mir ständig, also das mit der Jacke. Meistens in Kneipen, in denen sämtliche Menschen dunkle Kapuzenjacken tragen, etwas misslich, aber da kann ich jedenfalls offensiv suchen. Hier hingegen kann ich jetzt nicht die Leute bitten, für mich aufzustehen, ob sie vielleicht drauf sitzen? Ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein, ich kannte Kittler gar nicht, alles was ich über ihn weiß, habe ich aus dem Nachruf, den ich für die taz online gestellt habe, und davon die Hälfte schon wieder vergessen. Es ist mir unangenehm, meine Bezugspersonen tanzen hackedicht, „talking ’bout my generation“, ich möchte den Raum verlassen, aber ich finde meine verdammte Jacke nicht.

Zurück an den Anfang, ins türkische Wett-Café am Kottbusser Damm. EM-Qualifikation-Hinspiel Türkei-Kroatien. Leider läuft Eurosport und kein türkischer Kommentator. Der Moderator spricht von „emotionalen Teams“. Leichtes Fremdschämen. Schnell steht es 0:2, Kroatien jubelt, Trainer Slaven Bilic trägt Nike-Beanie zum Maßanzug. Er wird der bestgekleidetste Mensch des Abends bleiben. „Srna, der Kapitän, mit der 11, am 11. 11. 2011.“ Ja, mei.

Zur Halbzeit setze ich fünf Euro auf eine Dreiwegewette, mit Chance auf 46 Euro Gewinn. Mir gegenüber sitzen Profis, sie studieren seitenweise Zahlenkolonnen und machen Kreuze auf Zetteln, nur selten wandert ihr Blick nach oben, und wenn, dann nur auf die Monitore mit den Spielpaarungen, wo alle paar Sekunden in Rot und Grün die Quotenänderungen aufblitzen. SC Wiedenbrück – Sportfreunde Lotte, VVV-Venlo – ADO Den Haag, Kamerun – Sudan. Irgendwo ist immer Fußball. Die Wettenden spielen jetzt nicht mehr für sich, sondern für mich, sie werden zu Datenproduzenten.

2:0 Ukraine gegen Deutschland (mein Tipp: Unentschieden). Tschechien legt gegen Montenegro vor, gut, aber was machen die Holländer gegen die Schweiz? 54., 58., 67. Minute, keine Tore. Gegen die Schweiz! Die Kroaten treffen zum 3:0. Ibisevic und Dzeko vergeben Riesenchancen gegen Portugal, ich komme mit dem Kommentatorenton aus Istanbul und den Bildern aus Zenica durcheinander. Abpfiff in Letna, 2:0 Tschechien. Bolivien geht in Argentinien in Führung, da hätte man 100 Euro für fünf gekriegt. Rolfes trifft gegen die Ukraine zum 2:3, Deutschland rennt an, hier fällt sicher noch eins. Aber weiterhin 0:0 in Amsterdam. Betonottmar versaut mir den dritten Tipp. Nachspielzeit. Aus, aus, aus. Verloren. Weiter ins Kaffee Burger. Wirklich.

Zwei aufblasbare Gummiziffern, mit Gaffatape am Burger-Logo befestigt, weisen auf den 75. Geburtstag hin. 2011-75=1936. Und passend dazu eine Band mit Pseudorunenschrift im Logo eingeladen: Fleischdolls. Nur ihretwegen bin ich da. Junge Männer mit schienbeinhohen Stiefeln machen Sprechgeschrei zu Gitarren-Synthie-Samplekrams, mit einer Präsenz wie Michael Ballack in seinen besten Tagen. Menschen knutschen 30 Zentimeter neben meinem Kopf. Zu dieser Musik.

Am Ende eine grandiose Coverversion von „Eisbär“, ein Typ umarmt den Fleischdollssänger, ungefähr zehn Mal, und wird vor die Tür gesetzt. Das war angeblich der Burger-Chef. Ich nehme meine Jacke und fahre los.