Am Ende gewinnt immer Hannover

KADERSCHMIEDE Auffällig viele Berliner Spitzenpolitiker wurden politisch in Hannover sozialisiert. Mit Filz und Klüngel hat das, anders als viele denken, überhaupt nichts zu tun – sondern mit Bestenauslese

VON ANDREA SCHARPEN

Entweder todeslangweilig – oder ein filzig-schleimiger Politsumpf. Dazwischen gibt’s in der Berichterstattung über Hannover wenig. Der damalige Randlosbrillenträger Christian Wulff (CDU) hat es sogar geschafft, beide Klischees zu vereinen. Dieser Sumpf, auch „Maschsee-Mafia“ oder „Hannover-Connection“ genannt, wird oft herangezogen, wenn die extreme Hannoverlastigkeit der Bundespolitik erklärt werden soll.

Ganz Berlin ist voller Niedersachsen

Ex-Bundespräsident Wulff und Altkanzler Gerhard Schröder sind als ehemalige Ministerpräsidenten die prominentesten Vertreter der niedersächsischen Landeshauptstadt. Ein paar Homies, wie die Genossin Edelgard Bulmahn, brachte Schröder gleich mit ins Kabinett. Die blieb nach dem Studium in Hannover hängen, wurde Bildungsministerin und ist nun Vize-Präsidentin des Bundestages. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) leitete Schröders Büro in der niedersächsischen Staatskanzlei. Und auch sein Nachfolger an der Fraktionsspitze im Bundestag, Thomas Oppermann, saß 15 Jahre lang im niedersächsischen Landtag – in Sichtweite von Ex-FDP-Chef Philipp Rösler. Auch der begann seine erst mal recht steile Karriere in Hannover.

Das Leineschloss in Hannovers Altstadt ist eine Kaderschmiede, in der man Machtpolitik üben kann, bevor man dahin weiterzieht, wo das ganz große Rad gedreht wird. Auch der nächste Kanzler wird diese Schule hinter sich gebracht haben, falls Angela Merkel jemals abdanken sollte. Ins Kanzleramt zieht dann wieder jemand ein, der in Hannover politisch sozialisiert wurde. Einer, der den bröseligen Landtag an der Leine von innen kennt, dem schon mal ein bisschen übel geworden ist, von der stickigen Luft im fensterlosen Plenarsaal. Das ist so sicher, weil es nur zwei Kandidaten gibt, die Kanzler können: Kronprinzessin Ursula von der Leyen (CDU) oder Sigmar Gabriel (SPD).

Röschen oder Siggi – egal, Hauptsache Hannover

„Röschen“, weil sie die einzige ist, die Merkel nicht aus politischem Kalkül abgesägt hat, wie die Roland Kochs der Republik. Die Tochter des früheren Ministerpräsidenten Ernst Albrecht kam spät zur Politik. Wulff ließ sie trotz ihres Namens die Ochsentour durch die hannoversche Lokalpolitik machen, bevor er sie 2003 in sein Kabinett holte. 2005 kam der Sprung in den Bundestag. Heute reist sie als „Flintenuschi“ an den Hindukusch, lebt mit ihrer Großfamilie aber in Burgdorf bei Hannover.

Gabriel aus Goslar war mal niedersächsischer Ministerpräsident, ganz kurz, als Schröder nach Berlin ging, mitten in der Legislaturperiode. Eine Wahl musste Gabriel dafür nicht gewinnen und die nächste verlor er gegen Wulff. Der 55-Jährige hat sich lange geziert, gegen Merkel anzutreten. Hat Steinmeier und Peer Steinbrück (SPD) vorgeschickt und im Hintergrund die Partei zusammengehalten. Jetzt ist da aber niemand mehr, der sich von Merkel zerfleischen lassen will. Nun muss der Mann ran, der mal „Siggi Pop“ war.

Bei der langen Liste der Hannoveraner im Berliner Regierungsviertel liegt der Klüngel-Verdacht nahe. Doch mit Filz hat der Erfolg der Niedersachsen nichts zu tun. Die „Maschsee-Mafia“ strahlte nie bis in die Bundespolitik. Und sie ist lange tot. Trotzdem ranken sich Legenden um die Zeit, als sich Politiker und Unternehmer zum „Krökeln“ (hannöversch für „Kickern“) auf „Herrenabenden“ des Rechtsanwalts Götz-Werner von Fromberg trafen. Oder in der VIP-Lounge von Hannover 96. Schröder soll hier genauso ein- und ausgegangen sein wie Klaus Meine von den Scorpions und natürlich Carsten Maschmeyer, der schmierige AWD-Gründer und Lebensgefährte von Veronika Ferres. Da war die Rede von „Erbfreundschaften“, die Schröder an Wulff weitergab und von der Markthalle als „Bauch von Hannover“, in dem wichtige Entscheidungen beim Mittagessen gefällt werden. Aber der heutige Ministerpräsident von Niedersachsen, Stephan Weil (SPD), guckt die Spiele von Hannover 96 lieber mit alten Freunden auf der Tribüne, als mit neureichen Wirtschaftsbossen hinter Fensterglas. Und er ist auch zu bieder für Kellerpartys mit dichtem Zigarrenrauch.

Hochdeutsch als Qualifikationsmerkmal

Viel wahrscheinlicher ist, dass Niedersachsen allein schon wegen seiner Einwohnerzahl breit in der Politik vertreten ist. Nur in Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen leben mehr Menschen – und einen Kanzler aus Bayern wollen nun mal 15 Bundesländer nicht.

Natürlich ist es hilfreich, dass Hannoveraner nicht sprechen, als hätten sie einen Korken im Mund. Wichtiger aber ist die Bestenauslese im niedersächsischen Landtag. Wer in Hannover politisch erfolgreich sein will, muss gut sein. Ein Parteibuch in der richtigen Farbe reicht – anders als in Bayern – nicht. Seit den 70er-Jahren haben sich CDU und SPD auf der Regierungsbank oft abgewechselt. Weil beiden Parteien eine feste Hausmacht fehlt, müssen die Politiker um jede Stimme kämpfen.

Klingt nach langen Arbeitstagen und zermürbenden Diskussionsrunden – eher todeslangweilig als nach Filz, Sumpf und Macht. Passt aber zu Hannover.