KRIMSEKT VOM LADEN UM DIE ECKE, LÄNGST VERSCHOLLEN GEGLAUBTE SPRACHFETZEN AUS DER SCHULZEIT
: Die Renaissance des Russischen – wider Willen

VON ANDREAS HERGETH

Seit vergangenem Sommer kommen immer mehr Russischvokabeln aus dem Gedächtnis zurück und aus mir heraus. Ist mir irgendwie peinlich. Denn Russland finden derzeit alle doof, weil es in der Ukraine einen Krieg angezettelt hat. Russisch sprechen ist deshalb gerade nicht cool – na ja, war’s ja noch nie. Aber was soll ich machen? In der Schule mussten wir acht Jahre die „Sprache der Freunde“ lernen, wie es so schön euphemistisch auf DDR-Deutsch hieß. Englisch hatten wir nur fünf Jahre. Andere Fremdsprachen gab es nicht. Und Russisch oder Englisch am lebenden Subjekt anwenden, das ging erst nach der Wende. Da war’s zu spät für ein erstklassiges Sprachniveau.

Mein Vater pflegte zu DDR-Zeiten immer zu sagen: „Der Russe macht, was er will.“ Das ist frappierend aktuell. Andererseits hat er auch gerne gesagt: „Wenn der Chinese mal losläuft, ist alles zu spät.“ Damals als Jugendlicher hab ich das alles nicht verstanden. Das mit den Chinesen würde ich jedoch heute als Art Prophezeiung lesen, die nun im Zeitalter der Globalisierung eingetreten ist. Nur dass sich die Chinesen nicht zu Fuß auf den Weg gemacht haben, sondern die Welt stattdessen mit ihren Waren verkleistern.

Apropos Waren: Wahrscheinlich bin ich selbst schuld daran, dass sich das vergessen geglaubte Russisch wieder regt. Bei mir um die Ecke in Friedrichshain, am Rande von Lichtenberg gibt es einen großen russischen Supermarkt, zu dessen Stammkundschaft ich gehöre. Dort kaufe ich meinen Schwarztee, eine englische Marke, meine Frischmilch, die aus Polen kommt, Äpfel aus Belgien und Melonen aus Kasachstan. Okay, und die verdammt guten, leider sehr sündigen Süßigkeiten aus Russland. Nur die Pralinen aus Weißrussland lasse ich aus politischen Gründen links liegen. Aber beim Krimsekt werde ich oft schwach.

Der Supermarkt ist irgendwie urwüchsig. Oder sagt man „postmodern“? An der Fleischtheke gibt es Innereien, die ich zuletzt meine Oma in den 80er Jahren essen sah. Berge von geräuchertem und getrocknetem Fisch, Regalreihen mit Buchweizen und Sonnenblumenkernen und Gläsern voller Sauerampfer oder einem nicht näher definierbaren Etwas erinnern an einen Basar orientalischer, Pardon: zentralasiatischer Prägung.

An der Kasse wird jeder Deutsche sofort als Deutscher erkannt, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Erst nach ein paar Wochen traute ich mich zum ersten Mal, Hallo und Danke und Tschüss auf Russisch zu probieren. Hat geklappt. Aber wie immer, wenn man den kleinen Finger reicht, sprechen die Kassiererinnen sofort Russisch mit mir. In einem irren Tempo. Das Wechselgeld – ach so. Ein paar Wochen später hatte ich die Zahlen von 1 bis 100 auf Russisch wieder drauf. Gelernt ist gelernt.

Und jetzt verfolge ich einen kühnen Plan. Im nächsten Jahr soll es nach St. Petersburg, vielleicht auch nach Moskau gehen. Damit ich das – trotz eines mulmigen Gefühls ob der angespannten Lage in Russland – auch in die Tat umsetze, erzähle ich allen Freunden davon. Nagle mich quasi selber fest. Prompt bekam ich zu Weihnachten einen Abrisskalender geschenkt, mit dem ich meine Russischkenntnisse wieder aufpolieren kann. Hängt nun auf dem Klo. Und funktioniert tatsächlich! Jeden Tag staune ich darüber, was ich noch alles weiß – oder was ich im Lauf der Jahre vergessen habe. Aber solch Training zeitigt schnell Wirkung: Beim Toilettengang aufgefrischte Wörter und Redewendungen prägen sich super ein. Mein Russisch wird tatsächlich besser: otschen karascho*!

*„sehr gut