Von Grönland bis Mumintal

LITERATUR Sie können nicht nur grausame Sagas, und sie können nicht nur brutale Krimis. Die Autoren, die das Hamburger Literaturhaus bei den diesjährigen Nordischen Literaturtagen vorstellt, beleuchten vielmehr allgemein gültige, teils auch globale Themen

Eine umfassende Ausgabe mit 64 Islandsagas liegt erst seit wenigen Wochen vor

VON PETRA SCHELLEN

Diese Texte sind total archaisch. Und sie sind es auch wieder nicht. Oder – so archaisch wie griechischen Götter- und Heldensagen, bei denen Götter und Menschen ja auch munter durcheinander wirbeln. Oder wie die ägyptischen Geschichten von Isis und dem Totengott Osiris, die, obwohl Geschwister, einander heirateten, und es ging nicht gut.

In anderen Worten: Der Stoff ist immer ähnlich in solcher Literatur, und dass die diesjährigen Nordischen Literaturtage in Hamburg die Island-Sagas an den Anfang stellen, entspricht durchaus der Chronologie der nordischen Literatur: Im 13. und 14. Jahrhundert sind die volkssprachlichen Prosatexte entstanden – parallel zu Nibelungenlied und der höfischen Parzival-Dichtung.

Literarische Reflexion

Aber die Island-Sagas waren eben keine kunstvoll gewobene höfische Dichtung, sondern eine literarische Reflexion der eigenen Geschichte: der Ankunft der ersten isländischen Siedler, ihrer Hierarchien, Nöte, Fehden und ihrer Entdeckungsfahrten. Die erste europäische Entdeckung Amerikas wird zum Beispiel in der Saga von Vinland und Grönland erzählt, und all diese Themen kommen einem durchaus heutig vor – wäre für Teenie-Abenteuerromane bestens geeignet.

Nur, dass bis zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse samt ihrem Island-Schwerpunkt eben keine akzeptable neuhochdeutsche Übersetzung der Sagas vorlag: Die letzte vollständige Übersetzung war die berüchtigte Sammlung Thule und stammte aus den 30er-Jahren, sagt Flora Fink, Kuratorin der Nordischen Literaturtage. Die Sagas seien von den Nazis und ihrer völkischen Ideologie bequem missbrauchbar gewesen; entsprechend gefärbt waren die ersten Übersetzungen.

„Für uns Skandinavistik-Studenten war das der Giftschrank“, sagt Fink. Später habe es noch einmal einen weiteren Anlauf der Neu-Edition gegeben, der aber versandet sei. Eine umfassende Ausgabe mit 64 Sagas, ediert unter anderem vom Kieler Skandinavistik-Professor Klaus Böldl, liegt erst seit wenigen Wochen vor und wird jetzt in Hamburg präsentiert.

Und Island ist stolz auf diesen frühen Beginn literarischen Schaffens; fast jeder Autor und Moderator betont, dass Island mit seinen 250.000 Einwohnern und 150 Neuerscheinungen pro Jahr mehr Bücher herausbringe als etwa China.

Das würde Jón Kalman Stefánsson in seiner zurückhaltenden Art vielleicht etwas übertrieben finden, andererseits hat er, der bereits vor zwei Jahren in Hamburg gastierte, genug Humor, um solch Selbstlob leise lächelnd hinzunehmen. Er selbst wird über isländische Gesellschaft, über Wetter und Gefühle lesen, beides in jener Weltregion zu Extremen neigend. Gedichte steuert – die Lesungen sind fast durchgängig als Duette konzipiert – seine Landsmännin Sigurbjörg Drastardottir bei, und das war’s dann auch schon mit Island in diesen fünf Tagen.

Globale Themen

Norwegen, das Land, dessen Sprache, historisch gesehen, Nachfolgerin des Isländischen und ihm doch so unähnlich ist, kommt alsdann zu Wort – mit Themen, die nicht spezifisch „nordeuropäisch“, sondern global und umso gültiger sind: Lebensbilanzen etwa ziehen die teils betagten Protagonisten von Mirjam Kristensen, kristallisiert um Fragen der Schuld nach dem tödlichen Verkehrsunfall einer jungen Frau. Eine gültige Antwort auf die anfallenden Sinnfragen finden sie nicht – aber das müssen sie ja vielleicht auch nicht. Zumal Kristensen im Zentrum von „Ein reiches Leben“ ausgerechnet eine Russin stehen lässt – was zum Katalog des angeblich typisch Nordischen ja auch noch jenen des unterstellt Osteuropäischen eröffnet.

Betagt ist auch Martha Martinsen, um die sich Kjersti Skomsvolds „je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich“ dreht – wie die frisch zur Witwe Gewordene sich durchschlägt zurück zu etwas, das man Normalität nennen könnte, daraus hat die 32-Jährige ein viel gelobtes Debüt werden lassen.

Ihre dänischen Kollegen Helle Helle und Morten Ramsland betrachten die andere Seite – und auch wieder nicht –, indem sie prall die Brutalitäten des Alltags aufgreifen und so mikroskopisch genau hinschauen, dass man manchmal robust sein muss. Helles Roman „Rødby – Puttgarden“ etwa blickt hinein in die Tristesse des Lolländischen Prekariats – abseits von Ferienvorfreude oder auch der nie endenden Diskussion um eine Brücke (respektive einen Tunnel) zwischen Deutrschland und Dänemark.

Und vielleicht kann man einen versteckten sozialkritischen Fokus aus dem Programm der Literaturtage herauslesen, wenn man bedenkt, dass die Finnen Markus Nummi und Risto Isomäki Kindesmisshandlungen, Terrorismus und den Terror der Atomkraft in den Blick nehmen.

Finnland: Das ist vielleicht sprachlich, keineswegs aber literarisch-politisch am Rande Europas und hat sich längst gelöst von jenen Zeiten, als es wegen seiner über 1.000 Kilometer langen Grenze zu Russland Rücksicht auf den mächtigen Nachbarn nahm.

Auch darüber, das Finnland der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg Karelien abtreten musste, durfte jahrzehntelang nicht öffentlich diskutiert werden. Und fast wünscht man sich, die Kuratorin hätte auch estnische, lettische und litauische Literatur ins Programm genommen, die ja auch zum Ostseeraum und mithin zu Nordeuropa gehören, aber das wäre wohl zu viel geworden.

Ein Funken Sorglosigkeit

So bleibt nur zu erwähnen, dass nach all der Ernsthaftigkeit auch ein Funken Sorglosigkeit aufleuchtet: die Mumingeschichten der Finnlandschwedin Tove Jansson. Trolle mit Nilpferd-Mund und winzigen Händen und Füßen sowie Mymlas und andere abstruse Gestalten kämpfen da gegen böse Kometen und hoch gefährliche Überschwemmungen im idyllischen Mumintal. Sie stammen aus den 50er, 60er Jahren, aber seit vor einigen Jahren neue Übersetzungen von Birgitta Kicherer herauskamen, sind sie quasi neu erstanden: Humorvoll und sehr poetisch sind diese Erzählungen von ganz alltäglichen Dingen – zum Beispiel der Midlife-Crisis des Muminvaters, der plötzlich auf eine einsame Insel ziehen will, um den Sinn des Lebens zu finden. Diese Storys sind auch für den erwachsenen (Vor-)Leser ein reines Vergnügen.

Und damit das alles noch plastischer wird, hat das Literaturhaus auch noch die Mumin-Ausstellung Roger Gustafssons hinzugenommen. Denn in Finnland, sagt Kuratorin Flora Fink, habe immer noch fast jedes Kind eine weiße Plastik-Spardose in Mumin-Form. Und da habe sich Gustafsson gedacht, dass er Kindern anhand dieser Mumins ja gut die Kunstgeschichte erklären könnte. So hat er also nach Christo-Art verpackte und andere Mumins gemacht, die an irgendwelche berühmten Künstler erinnern. Den Mumins wird’s gefallen.

Hamburg: Mo, 21. 11. bis Fr, 25. 11., Literaturhaus Hamburg, Schwanenwik 36; www.nordische-literaturtage.de