die taz vor neun jahren über einen neuen gedächtnisdiskurs:
Die veränderte Atmosphäre ist unverkennbar. Heute kristallisiert sich ein neuer Gedächtnisdiskurs, in dem das staatlich ritualisierte und betonierende Gedenken sich dem Ende zu bewegt. Steven Uhly (taz vom 29. 8.) hat prägnant darauf hingewiesen, daß durch Auschwitz die deutsche Nation neu begründet wurde. Der Punkt ist nur, daß auch Auschwitz auf spezifische Weise zurechtgebogen wurde. Das Gedenken kam erst durch diese Neubegründung zur vollen Entfaltung. Man denke nur an den 27. Januar, der als Tag der Befreiung von Auschwitz für die Opferseite zwar von Bedeutung sein mag, für die Täterseite jedoch auf eine geschichtliche Fußnote hinweist. Er kann insofern nicht mit der lauten Ikonik des Jahrestages der Novemberpogrome konkurrieren. Als Gedenktag in Deutschland taugt er freilich sehr wohl dazu, sich mit den Opfern und den Siegern zu identifizieren und von den eigenen Tätern abzulenken. Oder das Holocaust-Mahnmal, das von den tatsächlichen Orten der Verbrechen ablenkt und sich nur auf die jüdischen Opfer bezieht, mit dem Tenor: „Was wir Deutsche da verloren haben.“ Gewiß gibt es auch gute Argumente, die Mahnung an die Verbrechen gerade im Zentrum Berlins auch durch ein großes Areal zu vergegenwärtigen. Warum aber auf einen Teil der Ermordeten beschränkt und in Form einer Ästhetisierung, die dieses Mahnen streng kanalisiert und die schon bald aus der Mode ist, wie Kaiser-Wilhelm-Denkmale von Anno dazumal? Mittlerweile erweist sich dieses nationalisierte Gedenken, die staatliche Okkupierung eines Terrains von Orten und Tagen konstruierter Geschichte, als Bumerang: Ein Terrain wurde geschaffen, das angefochten und umkämpft werden kann und das kritische Diskurse schafft. So bleibt zu hoffen, daß ein zentrales Mahnmal zum zentralen Refugium gegen neonazistische Kräfte wird und der 9. oder vielmehr der 10. November als aktiver Tag gegen Rassismus die Ermordeten mit mehr als pathetischer Gestik ehrt. Michal Bodemann, 9. 11. 98
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