VON WELLENSITTICHEN UND MOSCHUSOCHSEN
: Begegnen sich zwei Männer vor einem Supermarkt

LIEBLING DER MASSEN

ULI HANNEMANN

Es ist ein trüber Tag. Vor Edeka schlurfen zwei untersetzte Männer, den müden Blick vor sich auf den Boden gerichtet, unaufhaltsam aufeinander zu. Gleich werden sie einander bemerken, den Schritt verlangsamen oder ganz stoppen, um rationale oder instinktive Lösungswege zu finden, den Zusammenprall zu verhindern.

Wer von uns kennt das nicht: Man begegnet einem Fremden irgendwo im öffentlichen Straßenland, wo der knappe Raum sozial verteilt sein will. Ist das Wetter schön, die Laune gut und das zivile Gewissen gesund und wach, versuchen beide auszuweichen. Eines will rücksichtsvoller und zuvorkommender als das andere sein und als erstes ausweichen. Nun aber geschieht es oft, dass sich beide für dieselbe Ausweichrichtung entscheiden. Das führt dazu, dass beide in einer Art Spirale gefangen sind, in der sich die falsch synchronisierte Entscheidung gleich mehrmals wiederholt. In einem Menuett des gepflegten Miteinanders spiegeln sich die Schritte der Zufallspartner. Dann als Ausbruchsversuch aus der Zwangslage ein plötzlicher Richtungswechsel, den das Gegenüber auch wieder nachvollzieht. Es ist ähnlich wie beim Tsching Tschang Tschong, wo sich beide Spieler nach dreimal Stein zeitgleich für Papier entscheiden: Und schon wieder Patt.

Typisch für die Situation ist das spätestens nach dem dritten vergeblichen Versuch einsetzende Lächeln der Beteiligten. Teils entschuldigend, teils belustigt, teils hilflos soll es die Botschaft transportieren: Ich bin harmlos, ich tue dir nichts zuleide. In der Balz kann das durchaus ein Trumpf sein, der die Gattenwahl entscheidet. Nicht zufällig ähnelt die Choreografie unseres kleinen Reigens auch frappierend der des Paarungstanzes zweier Wellensittiche.

Um es klar zu sagen: Ich selber habe ausnahmslos jede Frau in meinem Leben auf exakt diese Weise kennen- und lieben gelernt. Also alle drei. Begegnen, ausweichen, scheitern, lächeln, passt schon. Schließlich kann sie ja auch nicht mehr weg. Genau genommen bin ich zeitweise überhaupt nur noch deshalb aus dem Haus gegangen, um solche Möglichkeiten zu kreieren. Das braucht zwar ein wenig Geduld, aber am Ende klappt es eigentlich immer. Bis heute verstehe ich nicht, wie Männer Geld für Prostituierte ausgeben können. Gehen die denn niemals in der Stadt spazieren?

Die Männer vor dem Supermarkt reagieren jedoch völlig anders. Zwar schrecken sie kurz auf, doch keiner von beiden weicht aus und keiner lächelt. Ohne Worte und mit verbissenen Mienen versuchen sie sich quasi durch den jeweils anderen hindurchzuschieben, bis sie sich endlich mit reichlich Reibung aneinander vorbeigequetscht haben. Das hat deutlich mehr vom Moschusochsen als vom Wellensittich. „Auf die Augen kannst du haben“, höre ich, nachdem alles geschafft und der eine längst außer Hörweite ist, den anderen emotionslos sagen. Liebe sieht anders aus.

Es ist aber auch die schlimmste Zeit jetzt. Nicht mitten im Winter, da die Tage am kürzesten und trübsten sind; da nimmt man die Herausforderung noch irgendwie an und schafft es so, den Arsch zusammenzukneifen. Sondern die Phase, wenn der Winter zu Ende geht und der Frühling kurz bevorsteht. Aber eben noch nicht kommt. Da geht den Leuten dann doch ein wenig die Luft aus. Da sind sie dann am übelsten gelaunt. Im Grunde hat man bei jedem Brötchenkauf das Gefühl, dass schon der kleinste Fehler, ein schräger Blick, ein falsches Benennen des Gebäcks oder ein zu umständliches Kramen in der Geldkatze die an sich harmlose Alltagssituation jederzeit zur Massenschlägerei eskalieren könnte. In diesen Tagen geht man einander besser aus dem Weg.