„Zug der Erinnerung“ rollt an

Nachdem die Deutsche Bahn ihre Bahnhöfe nicht zur Verfügung stellen wollte, informiert nun eine rollende Ausstellung über Deportationen von Kindern in der Nazizeit. Bahn will Geld sehen

Von REIMAR PAUL

Der „Zug der Erinnerung“ besteht aus einer Dampflokomotive und vier Waggons. Die Lok wurde 1921 gebaut, die Wagen stammen aus den 1960er Jahren. Entlang der Deportationsrouten der früheren Deutschen Reichsbahn steuert der Zug in den kommenden Wochen Orte an, in denen Kinder und Jugendliche von den Nationalsozialisten verschleppt und ermordet wurden. Im Innern der Wagen informieren Tafeln und Plakate über die Schicksale betroffener Jungen und Mädchen – Kinder jüdischer Eltern, von Sinti und Roma oder von Nazi-Gegnern. Nach einer Fahrt durch halb Deutschland soll der Zug Ende Januar in Auschwitz eintreffen. Nach ihrem gestrigen Start in Frankfurt/Main soll die rollende Ausstellung in einem Monat nach Niedersachsen kommen.

Für Göttingen, Northeim und Hann. Münden, wo der „Zug der Erinnerung“ zwischen dem 12. und 16. Dezember Halt machen soll, kündigten Bürgerinitiativen und jüdische Vereinigungen gestern ein umfangreiches Begleitprogramm an. „Immer da, wo der Zug hält, ergänzen Initiativen vor Ort die Ausstellung mit eigenen Aktionen“, sagt Anne Berghoff von der Göttinger Geschichtswerkstatt. Mahnwachen und Vorträge von Holocaust-Überlebenden werden in der Region ebenso angeboten wie politisch-historische Filme und Konzerte. Zur Ankunft des Zuges in Göttingen ist eine Kundgebung am Bahnhof geplant.

Der „Zug der Erinnerung“ soll auf „das reibungslose bürokratische System aufmerksam machen, das die Deportationen erst möglich machte“, sagen Berghoff und der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Göttingen, Harald Jüttner. Im Mittelpunkt ihrer Kritik steht die Deutsche Bahn. Erst nachdem diese eine Wanderausstellung über die Verschleppungen auf den Bahnhöfen untersagt hatte, war die Initiative für den „Zug der Erinnerung“ vor zwei Jahren gestartet. Trotz heftiger Proteste blieb die Bahn bis heute bei ihrer ablehnenden Haltung.

Bundesweit sind bislang mehr als 12.000 Kinder und Jugendliche identifiziert, die bei Deportationen Opfer der NS-Rassenpolitik wurden. Wie in fast jeder deutschen Stadt, war auch in Göttingen der Bahnhof Ausgangspunkt für die Deportationen in die Vernichtungs- und Konzentrationslager. Am 26. März und 21. Juli 1942 brachte die Reichsbahn von dort aus insgesamt 110 Jüdinnen und Juden ins Warschauer Ghetto und ins KZ Theresienstadt. Zuvor mussten sie mitten durch die Stadt zum Bahnhof marschieren – unter den Augen der Bevölkerung. Fast alle aus Göttingen Deportierten wurden ermordet, nur drei überlebten. Denny Junger, das jüngste Opfer der antisemitischen Verfolgung, war bei seiner Verschleppung noch nicht einmal vier Jahre alt.

„Die Initiativen leisten für die Bahn die Aufarbeitung der Geschichte“, sagt Berghoff. Dafür müsse der Bahnvorstand mindestens so viel Entgegenkommen zeigen, dass der „Zug der Erinnerung“ kostenlos rollen könne. Nach Angaben des bundesweiten Trägervereins ist das aber nicht der Fall. Der Verein musste für die Schienennutzung einen Mietvertrag mit der zuständigen Bahn-Tochter abschließen. Rund 3.000 Kilometer soll der Zug in den nächsten Wochen zurücklegen. In Niedersachsen hält er im Dezember auch in Braunschweig und Hannover.

Aus Hannover stammt Margot Kleinberger, die am Donnerstag in Frankfurt den „Zug der Erinnerung“ eröffnete. Sie war 1942 als Elfjährige nach Theresienstadt verschleppt worden. Margot Kleinberger überlebte drei Jahre KZ und eine Versuchsstation für Infektionskrankheiten. Die Ausstellung hole „die Toten wieder aus der Vergessenheit heraus“, sagt sie.