Schatzsuche mit „Räuberteller“

Was Kindern auf Speisekarten geboten wird, beschränkt sich oft auf Fischstäbchen, Schnitzel und Pommes. Es geht auch anders: Kinder, die bei den Eltern mitessen, können viel Neues entdecken. Persönlicher Service kann Genießer heranziehen

Kinder und Jugendliche essen zu wenig Obst und Gemüse. Zu diesem Ergebnis kommt eine vom Bundesministerium für Ernährung finanzierte Studie. In der Altersgruppe von sechs bis elf Jahren verzehren nur 6 Prozent der Jungen und 7 Prozent der Mädchen genügend Gemüse (Obst 15 beziehungsweise 19 Prozent). Die meisten kommen nicht mal auf die Hälfte der empfohlenen Menge. Komplexe Kohlenhydrate, Molkereiprodukte und Fisch werden ebenfalls zu wenig gegessen, der Fleisch- und Süßigkeitenkonsum liegt dagegen deutlich über den Empfehlungen. Auch Fast Food und zuckerhaltige Limonaden konsumieren vor allem männliche Jugendliche zwischen 12 und 17 zunehmend. LS

VON LISA SHOEMAKER

Landwehrkanal, Biergarten, Oktobersonne, die perfekte Mahlzeit für Kind und Begleitung: Meine Freundin stillt ihren drei Monate alten Sohn, nach wenigen Minuten schläft er tief und fest. Sie legt ihn vorsichtig in den Kinderwagen zurück. Wir essen in Ruhe. Das wird nicht lange so bleiben. Das erste halbe Jahr schlummert der Säugling sanft, während die Eltern entspannt den Restaurantbesuch genießen. Im zweiten halben Jahr verzichten weise Eltern auf auswärtiges Essen. Und mit einem Jahr kann der Sprössling im Hochstuhl mitspeisen. Fragt sich nur, was?

Babys verfügen über 10.000 Geschmacksknospen, doppelt so viele wie Erwachsene, und können schon von Geburt an süß, sauer, salzig und bitter unterscheiden. Anfangs bevorzugen sie Süßes, doch schon mit vier Monaten schätzen sie auch Salziges, lehnen bittere Nahrung aber noch ab, vermutlich ein angeborener Instinkt, da giftige Pflanzen sich oft mit Bitterstoffen gegen Feinde wehren.

Andererseits haben Kinder eine ausgeprägte Neophobie: Sie betrachten Unbekanntes skeptisch, erst wenn sie sehen, dass vertraute Personen bestimmte Nahrungsmittel wiederholt zu sich nehmen, probieren sie vielleicht auch einmal. Daher es ist wichtig für die Geschmacksentwicklung von Kindern, wenn sie ohne Druck immer wieder die Möglichkeit haben, geschmacklich Neuland zu betreten. Nur leider wird ihnen dazu selten die Gelegenheit geboten.

Von der Wiege an sind unsere Kinder den Segnungen industrieller Lebensmittelproduktion ausgesetzt: Von der Gläschenkost über TK-Pizzen, Kartoffelpüree aus der Tüte und die endlose Reihe sogenannter Kinderlebensmittel – alles ein gleichschmeckend aromatisierter Einheitsbrei. In Studien hat sich herausgestellt, dass Kinder Vanillin (künstliches Vanillearoma) gegenüber echter Vanille bevorzugen und Erdbeerjoghurt mit Erdbeeraroma leckerer finden, weil sie es nicht anders kennen.

Pumuckl, Micky Mouse und Konsorten zieren gern mal die Rubrik „für unsere kleinen Gäste“ auf der Speisekarte. Hinter Schweinchen Dick steht schlecht getarnt ein Schweineschnitzel, Käpt’n Blaubär muss für Fischstäbchen herhalten, und das Hühnchen wird schon mal mit Zauberbrösel (?!) à la Potter paniert. Bei der Namensgebung sind die meisten Wirte kaum kreativer als in der Auswahl der Speisen, die sie für Kinder bereithalten. Der vermeintlich kinderfreundliche Standard ist von der System-Gastronomie abgekupfert, mit regionalen Abweichungen: Spätzle in Schwaben, Rostbratwürstl im Frankenland. Gemüse kommt überhaupt nicht vor, und auch eiskalte Tomatenviertel mit Sträußchenpetersilie dienen eher als Deko. Bei einer vom Hilton Hotel 2005 durchgeführten Befragung legten über 90 Prozent der Eltern Wert auf kinderfreundliches Personal, gutes Essen im Restaurant war 43 Prozent der Eltern wichtig.

Am einfachsten geht’s bei Italienern. Die haben mit ihrer Pizza und Pasta gewissermaßen einen Heimvorteil, und gerade von diesen Gerichten können problemlos kleinere Portionen zu reduzierten Preisen zubereitet werden. Andere Restaurants machen das leider auch auf Nachfrage selten. Oft wird dann nach ein paar Bissen das Servierte beiseite geschoben: „Bin satt. Kann ich jetzt den Nachtisch bestellen?“ Woraufhin sich Mutti entweder über die Portion des Sprösslings hermacht, hin- und hergerissen zwischen Sparsamkeit – bloß nichts verschwenden – und Sorgen um ihren Hüftumfang.

Wirklich alles, was so üblicherweise auf Kinderkarten steht, wird im Dos Pescados am Friedrich-Wilhelm-Platz geboten, sogar Backkartoffeln und Salat mit Hühnchen als gesunde Alternative, nur nicht das, was man in einem Tex-Mex Restaurant erwarten könnte: Texikanisches. Ein mild gewürztes Chili con Carne oder Quesadillas – die mögen zwar auch nicht den Richtlinien von Ernährungsexperten entsprechen, stellen aber eine schmackhafte Abwechslung dar.

Dabei kann man junge Gäste auch als Herausforderung betrachten: Im Elysander in der Leibnizstraße, wo nur mit Ökoprodukte gekocht wird, geht man auf die Kinder ein. Alles, was auf der Speisekarte steht, wird ganz nach Wunsch zubereitet. Und wenn dann ein Knabe Bratwurst pur ordert, verhandelt Chef Karsten Sander schon mal nach, ob es nicht auch noch mit ein wenig Gemüse sein darf.

Jeannette Sonderhoff im Café Mirabelle am Bürgerpark in Pankow bietet einen Räuberteller an: ein leerer Teller, „da kannst du von allen, die mit am Tisch sitzen, vom Teller räubern“. Man staunt, was die Kleinen alles essen. Da stopfen sie sich mit Ratatouille oder Beamtenstippe voll. „Das geht gut, bis sie drei oder vier Jahre alt sind“, erklärt Sonderhoff, „dann wollen sie etwas Eigenes und werden wählerischer. Für diese Kinder haben wir das Zwergenfutter.“ Das entspricht zwar weitgehend dem Üblichen, also Schnitzel, Eierkuchen, Kartoffelpuffer, auch mal Kartoffelschnee mit Erbsen. Doch wird im Mirabelle alles frisch zubereitet – mit Ausnahme der Fischstäbchen.

Meine Tochter hat immer von auswärtigem Essen profitiert, Spinat probierte sie erstmals beim Griechen, und seit einem Italienurlaub darf ich auch Muscheln zubereiten. Ausgerechnet der Bahn bin ich zu ewigem Dank verpflichtet. Im Speisewagen begriff mein hungriges Kind, dass seine geizige Mutter kein Geld für Nachtisch lockermachen würde, und aß aus Verzweiflung die Salatgarnitur ihres Kartoffelpuffers mit Räucherlachs – seither zählt Feldsalat zu ihren Lieblingsgerichten.