Tapfer gegen die Demoskopen

Die Niedersachsen-SPD stimmt sich mit ihrem Parteitag auf die Landtagswahl im Januar ein. Spitzenkandidat Jüttner streichelt die sozialdemokratische Seele, attackiert CDU-Ministerpräsident Wulff – und will Hamburg beim Hafenbau ins Boot holen

AUS OLDENBURG KAI SCHÖNEBERG

Wolfgang Jüttner ist nicht nur Parteisoldat: Mit dem Wer-Visionen-hat-soll-zum-Arzt-gehen-Spruch von Ex-Kanzler Helmut Schmidt sei er „noch nie einverstanden“ gewesen, sagt der Spitzenkandidat der Niedersachsen-SPD am Samstag beim Landesparteitag in Oldenburg. „Wer Visionen hat“, ruft Jüttner den 191 Delegierten zu, „sollte reingehen in die Welt und prüfen, welche praktische Politik mit diesen Visionen umzusetzen ist.“ Viele Sozialdemokraten im Land haben derzeit eine albtraumartige Horrorvision: Die, dass Jüttners SPD bei den Wahlen in elf Wochen nicht mal die blamablen 33,4 Prozent von 2003 erreicht.

Dennoch rufen die Genossen des Programmparteitags nach dem eine Stunde und fünf Minuten langen Rundumschlag des Spitzenkandidaten brav und rhythmisch klatschend Jüttners Namen. „Gerechtigkeit kommt wieder“-Schilder werden geschwenkt, das ist das Motto des SPD-Wahlprogramms.

Der Kandidat hat versucht, die sozialdemokratische Seele zu streicheln. Die SPD sei nicht die „Partei der Hänger“ und nicht die „Partei der kulturellen Spinner“, sondern eine „leistungsorientierte Partei“, betont Jüttner. Er spricht von Mindestlohn, von zu hohen Managergehältern, von der schreienden Ungerechtigkeit der 130.000 armen Kinder im Land. Und natürlich vom „Anscheinserwecker“, der „Haltlosigkeit“ und dem „Opportunismus“ von CDU-Ministerpräsident Christian Wulff. „Und deswegen“, donnert der Spitzenkandidat „muss der abgewählt werden.“

Sogar zum VW-Skandal, in den viele Parteigenossen verwickelt sind, äußert sich Jüttner. Wulff habe mit seinen Äußerungen zu den Verfehlungen von Betriebsräten und Managern nicht „die Fehler bei Volkswagen abstellen wollen, sondern die Mitbestimmung“. Nun sitze der Ministerpräsident im VW-Aufsichtsrat isoliert „am Katzentisch“, zum Schaden der Mitarbeiter.

Jüttner verspricht, dafür zu sorgen, „dass Hamburg in den nächsten zwei Jahren“ wieder beim Tiefwasserhafen in Wilhelmshaven einsteigt. Er will Autobahnen bauen und die Investitionsquote heben. Ganz oben steht für ihn jedoch „der Abbau von allen Hürden, die sich erfolgreichen Bildungsbiografien in den Weg stellen“. Tapfer erklärt er, die SPD zur stärksten Kraft in Niedersachsen machen zu wollen. Die CDU liegt laut der neuesten Umfrage bei 44 Prozent, lockere elf Prozentpunkte vor der SPD.

Je nun, etwas lang sei die Jüttner’sche Rede vielleicht gewesen. Aber inhaltlich gut, loben viele Delegierte nachher den Diskurs des Kandidaten. Offen darüber reden will keiner, aber die Werte der Demoskopen machen auch ihnen zu schaffen. Die Zahlen von Infratest & Co. sind halt so schwer zu widerlegen.

Nur Parteichef Kurt Beck schafft das: Er freue sich, Jüttner bald als Ministerpräsidentenkollegen im Bundesrat zu treffen: „Das macht Hoffnung, das macht Zuversicht!“ Es sei so „toll, dass ihr mitmacht“, ruft der Pfälzer den Genossen zu.

„Ich weiß, die Umfragen sind noch nicht so, wie wir das wollen“, räumt SPD-Generalsekretär Hubertus Heil die Misere ein. Aber der Wähler entscheide ja immer kurzfristiger.

„75.000 Sozis in Niedersachsen müssen jetzt jeden Tag alles geben“, feuert Landesparteichef Garrelt Duin den Parteitag an. „Rein in die Sporthallen und die Seniorenheime, rauf auf die Sportplätze und ran an die Werkstore.“ Später spricht er davon, dass vor allem die SPD-Anhänger im Land wohl noch nicht so richtig auf die Wahl am 27. Januar eingestimmt seien. Dass das genau so für die Sympathisanten der Regierungsparteien CDU und FDP gelten könnte, erwähnt er nicht.