Die Haut der Erinnerung

Das Begehren, die Architektur zu berühren: Die Schweizer Künstlerin Heidi Bucher nahm Häusern eine Maske ab, fragiler und doch manchmal langlebiger als Stein. Die seltene Chance, ihren Skulpturen zu begegnen, bietet die Galerie Giti Nourbakhsch

VON KITO NEDO

Wie die Haut eines urzeitlichen Riesentieres hängt das Hauptausstellungsstück in der Charlottenburger Galerie Giti Nourbakhsch. Eine große, bräunlich-lederne Trophäe aus schwer klassifizierbarem Material, fast vier Meter hoch und sieben Meter lang, bei dessen näherer Betrachtung man immer unsicherer wird. Vielleicht handelt es sich um geronnenes, dunkelhonigfarbenes Bienenwachs? Verwirrend ist auch der dezente Tamarinde-Duft, den das Werk verströmt, ähnelt er doch auf fatale Weise dem traditionellen Odeur indisch inspirierter Prenzelberger Esokitsch-Läden, vollgestopft mit Kerzen, Räucherstäbchen und bestickten Kissen.

Doch weder Wachs, Leder oder esoterische Aromen dienten der Schweizer Künstlerin Heidi Bucher als Materialien, als sie 1984 an der Skulptur „Grande Albergo Brissago“ mehrere Wochen lang arbeitete, sondern hauptsächlich dünner Gewebestoff und Latex. Mit diesem gummiartigen Milchsaft des Kautschukbaums bestrich sie das Eingangsportal der verlassenen Ruine des sehr berühmten Belle-Époque-Hotels am Lago Maggiore. Es sollte gerade abgerissen werden, um Platz zu machen für den Bau von Eigentumswohnungen. Nachdem das Latex, stabilisiert durch untergezogenes mullbindenartiges Textilgewebe geronnen war, zog Bucher es wie eine elastische Totenmaske vom Abrissgebäude ab. So erhielt die Künstlerin einen maßstabsgetreuen Abzug, der die Fassadenform wie eine Matrize in einen anderen Zustand transformierte, fragiler als das Original und paradoxerweise doch langlebiger als dieses.

Es sei die „Liebe zum Detail und zum Material“ begründete die 1926 in Winterthur geborene und 1993 in der schweizerischen Ortschaft Brunnen gestorbene Bucher ihr künstlerisches Tun. In den Vierzigerjahren hatte sie die Modefachklasse an der Zürcher Kunstgewerbeschule bei Lehrern wie Max Bill und Johannes Itten besucht, um nach dem Krieg mit abstrakten Collagen ihre Künstlerlaufbahn zu beginnen. In den Sechzigern und Siebzigern erfolgte dann die Hinwendung zur Skulptur und Architektur in Form von „Bodyshells“ oder den „Landings to Wear“ – tragbaren Kleiderobjekten, inspiriert von und in Zusammenarbeit mit Buchers damaligem Ehemann, dem Bildhauer Carl Bucher.

Schon aus diesen Aktionen und den Häutungen, die sie ab etwa Mitte der Siebzigerjahre durchführte, spricht das Begehren, die Architektur auf besondere Weise zu berühren. „Alle Architekten müssten einmal einen solchen Prozess mitmachen“, sagte Bucher in einem Interview über ihre Brissago-Aktion und zielt damit auf den besonderen geschichtlich-sozialen Gehalt, mit dem sich Gebäude nach einer gewissen Lebenszeit naturgemäß anzureichern beginnen.

Eine solche „Poetik des Raumes“ hatte auch der französische Philosoph Gaston Bachelard im Sinn, als er einst das Haus als eine der großen Integrationsmächte für die Gedanken, Erinnerungen und Träume des Menschen beschrieb. Und es stimmt: das Hotelgebäude am Lago Maggiore ist nun schon seit Jahrzehnten verschwunden, doch Buchers brüchige Latexhaut zeugt weiterhin diskret von ehemals real existierenden Räumen und allen mit ihnen verbunden Geschichten. Zur Gästeschar der exklusiven Tessiner Herberge mit Seeblick gehörten einst Persönlichkeiten wie Thomas Mann, H. G. Wells, Ernest Hemingway, Kurt Tucholsky oder Hermann Hesse.

Auf die Avantgarde-Kunst wirkte die Geschichtshaltigkeit der Architektur immer magnetisch. Wie mit ihr am besten umzugehen sei, dafür fanden Künstler verschiedene Strategien. Gordon Matta-Clark etwa sägte in den Siebzigerjahren im Zuge seiner „Cuttings“ mit heißer Wut ganze Häuser auseinander oder fräste konische Formen durch mehrere Etagen eines Abrisshauses im Herzen von Paris. Seine Kollegin Rachel Whiteread strebte statt Durchzug eher größtmögliche Versiegelung an, als sie in den Neunzigern ganze Treppenhäuser vollständig mit schnell härtenden Baumaterialien ausgießen ließ und so als Produzentin von brutalistischen Negativraum-Skulpturen bekannt wurde. Auch Gregor Schneider und seine Gruselarchitekturen – wie seinem „toten Haus ur“ vor ein paar Jahren auf der Venedig-Biennale – stehen in der Tradition der radikalen Lesarten der Architektur durch die Kunst.

Verglichen mit all dem atmen Heidi Buchers Architekturbearbeitungen vor allem Leichtigkeit, was besonders die zweite bei Nourbakhsch ausgestellte Raumhaut, die „Türe zum Borg“ von 1976, sichtbar macht. Der wuchtige Eingang zur Kühlkammer einer ehemaligen Metzgerei, die sie jahrelang als Atelier nutzte, verwandelt sich nach Buchers sorgfältiger Häutung in ein schwebendes, perlmuttlasiertes Elfenheim, eine leicht bewegliche Theaterkulisse, eher dem Gedanken verpflichtet als der unmittelbaren Materie.

Vielleicht ist in diesem ephemeren Charakterzug des bucherischen Werkes auch der Grund zu suchen, dass die Künstlerin selbst in der Schweiz schon kurz nach ihrem Tod Anfang der Neunziger in Vergessenheit geriet. Erst eine Retrospektive im Zürcher Migros Museum für Gegenwartskunst vor drei Jahren führte zu einer Wiederentdeckung ihrer außergewöhnlichen Arbeiten. Die Chance des Kennenlernens, die sich nun in der kleinen, insgesamt sechs Exponate umfassenden Berliner Ausstellung bietet, sollte man nutzen.

Heidi Bucher: „Grande Albergo Brissago“, Galerie Giti Nourbakhsch, Kurfürstenstr. 12, Di.–Sa., 11–18 Uhr, bis 24. 11. Katalog: Munder, Heike (Hg.): „Heidi Bucher“. JRP Ringier Kunstverlag, 2005 DVD: „Heidi Bucher. Die Filmische Biografie“. Art Adventures 2004