UNFALL KURZ VOR SCHLUSS
: Der Zahn

Ich war schockiert und dachte an ein Theaterstück von Beckett

In der Nacht hatten wir Billard gespielt und ich war noch ziemlich matt vom vielen Rauchen und Trinken. Während der Espresso auf dem Herd so allmählich in die Gänge kam, fuhr ich ein paar Autorrennen am Vormittag. Eine Zehntelsekunde musste ich noch schneller sein, um eine Goldmedaille zu bekommen. Ich fuhr ziemlich gut, doch am Ende, vor der letzten langgezogenen Kurve der Trial-Mountain-Strecke, bremste ich etwas zu spät. Ein Déjà-vu meines früheren Lebens als Echtautofahrer kam vorbei, führte zur Panik; zwei Zehntelsekunden kämpfte ich darum, nicht in die Leitplanke zu knallen. In der Aufregung machte ich eine unkontrollierte Unterkieferbewegung mit zusammengebissenen Zähnen, es knirschte. Ein Zahn war nun befreit im Mund.

Es tat überhaupt nicht weh. Ich hatte nur plötzlich einen frei flottierenden Zahn im Mund. Der Zahn fühlte sich an wie ein Kiesel. Ich war völlig schockiert und dachte an ein Theaterstück von Beckett. Der Eckzahn, den mir meine Zahnärztin vor fünf Jahren so schön renoviert hatte, war kurz hinter der Wurzel abgebrochen. Das Autorennen hatte seinen Glanz verloren. In diesem Zustand hatte ich keine Lust mehr, weiter zu fahren.

Ich nahm den Zahn aus dem Mund und betrachtete ihn eine Weile. Dann legte ich ihn in ein Döschen, machte die Playstation wieder aus, trank Kaffee, rauchte eine nachdenkliche Zigarette, tastete mit der Zunge die spitzen Wände des Kraters entlang und stellte mir vor, wie die Zahnärztin in ein paar Tagen den Zahnwurzelstumpf ausbuddeln würde.

Ich ging ins Badezimmer und schaute in den Spiegel. In nächster Zeit sollte ich wohl lieber den Mund halten. Kurz überlegte ich, mir, den Zahn mit Sekundenkleber wieder ins Gebiss zu kleben, ließ das dann aber doch. Am Abend dann ging ich spazieren und romantisierte mir mein Leben zurecht. DETLEF KUHLBRODT