Hinterm Tortilla Curtain

Ab heute werden die 19. Lateinamerika-Filmtage im 3001 fortgeführt. Unter dem Motto „Auf den Weg gemacht – Migration, Flucht und Selbstorganisation“ laufen bis Ende November insgesamt 13 Filme

Tortilla Curtain, so wird die mit Mauer und Stacheldraht gerüstete Grenze zwischen den USA und Mexiko genannt: das massivste von zahlreichen Migrationshindernissen in Lateinamerika. Wie bei der bereits gelaufenen ersten Filmstaffel im Metropolis liegt der Schwerpunkt der 19. Lateinamerika-Filmtage auch im 3001 auf der prekären Situation von Menschen, die sich innerhalb ihres Landes oder über dessen Grenzen hinaus auf den Weg gemacht haben, in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen.

Drei bewegende Geschichten über Kinder, die bei der Migration der Väter zurückbleiben, sind im Eröffnungsfilm „Al Otro Lado – Auf die andere Seite“ (heute 18.45 Uhr) miteinander verwoben: Prisciliano ist ein Junge, der in einem Dorf in Michoacan in Mexiko lebt, wo viele Väter abwesend sind – sie arbeiten auf der anderen Seite des Tortilla Curtain in den USA. Der Junge muss damit klarkommen, dass ihm die Rolle des männlichen Familienoberhaupts zugewiesen wird, der Vater für ihn durch die Grenze unerreichbar ist. Der Vater des kubanischen Junge Ángel, der mit Mutter und Opa in La Habana lebt, wird sogar niemals zurückkehren. Beim Versuch, übers Wasser nach Florida zu gelangen, hatte der einen fatalen Unfall. Fátima wiederum lebt auf dem Land in Marokko, ihr Vater hat die lebensgefährliche heimliche Überfahrt nach Spanien überlebt und arbeitet in Andalusien als Bauer. Sie plant, die Meerenge von Gibraltar in einer Nussschale zu überqueren, um ihren Vater zu treffen. Auch wenn die Südwestgrenze der Europäischen Union nicht so sichtbar ist wie der Tortilla Curtain, werden auch hier viele unbekannte Tode gestorben. „Al Otro Lado“ ist der zweite Spielfilm von Gustavo Loza, der mit seinem Kinderfernsehprogramm „Bizbirije“ in Mexiko bekannt ist. Durch seine Erfahrung mit Kindern gelingt es ihm eindrücklich, mit seinem Film ihre Perspektive auf die Migration einzunehmen. Die präzisen, atmosphärisch klaren Bilder lassen die Weite Marokkos, die mexikanische Provinz und die Stadt am Meer, La Habana, nahe kommen. „Al Otro Lado“ ist mit gutem Grund der Eröffnungsfilm. Zum Glück ist es den Organisatoren der Filmreihe gelungen, eine Kopie des Filmes aufzutreiben. Bereits 2005 ist er in Mexiko in den Kinos gelaufen und es ist sehr fraglich, ob er hierzulande einen Verleih findet.

Auch „Voces inocentes – Unschuldige Stimmen“ (heute 21 Uhr), 2004 in Mexiko gelaufen, findet hier keinen Verleih. Der Film spielt in den 80er Jahren in El Salvador, zur Hochzeit des Bürgerkrieges. Der elfjährige Chava lebt mit Mutter und Schwester in einem Verschlag aus Brettern, Blech und Karton im Dorf Cuscatazingo, nahe der Hauptstadt San Salvador. Eines Tages wird seine Schule vom Militär besetzt, alle Jungen über 12 Jahren werden mit vorgehaltener MPi für die Armee zwangsrekrutiert. Für Chava und seine Freunde gibt es nur eine Möglichkeit zu entkommen: Sie wollen sich zur Guerrilla durchschlagen. Zuvor ist eines Nachts der Onkel zu Besuch, der bei der Frente ist, der kommunistischen Guerrilla FMLN. Mit seiner Gitarre singt er. Die Mutter sagt hin- und hergerissen, er solle es nicht tun, stimmt dann aber ein: „Wie traurig klingt der Regen auf den Dächern aus Karton, wie traurig leben meine Leute in den Häusern aus Karton … Ihr werdet es nicht glauben, aber es gibt Schulen für die Hunde der Reichen, wo sie lernen, die Zeitung beim Bringen nicht zu zerbeißen, aber nur für die Herren, die seit vielen Jahren die Arbeiter ausbeuten.“ Der Filmemacher, Luis Mandoki, hat den Bürgerkrieg selbst miterlebt und sich handwerklich professionell, wenn auch etwas melodramatisch, diesem wichtigen, verdrängten Kapitel des sozialen Aufbegehrens angenommen. GASTON KIRSCHE