Die Bibliothek der Zukunft

NEUE CHEFSACHE Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit macht weiter als Kultursenator und will eine öffentliche Superbibliothek auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof bauen. Claudia Lux, Bibliotheksdirektorin, freut sich drauf

Es gibt noch keine Entwürfe, da nennen Spötter das Projekt schon mal „Wowereit-Gedenkbibliothek“

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

Die Aussichten machen nicht gerade Mut. Gegenüber der Landesbibliothek in Berlin-Mitte reißen Bagger das einstige DDR-Bauministerium ab. Neben der Bibliothek wird eine neue U-Bahn-Linie gegraben. Drinnen sind, wie schon im letzten Winter, wieder einmal Rohre geplatzt, so dass Claudia Lux, die Generaldirektorin der Berliner Zentral- und Landesbibliothek (ZLB), bei weit geöffnetem Fenster am Schreibtisch sitzt. Draußen ist es kalt und ziemlich laut. Aber die Feuchtigkeit muss raus.

„Wir arbeiten unter schwierigen Bedingungen“, sagt Lux und meint damit nicht nur die unwirtliche Lage. Aus ihrer Perspektive stimmt derzeit die ganze Richtung nicht: Die ZLB hat zwei Standorte, einer in West-, der andere in Ostberlin, beide in maroden Altbauten ohne moderne IT-Infrastruktur und mit zu wenig Fläche für die 10.000 Besucher täglich. Hinzu kommt ein Magazin – weit weg „Wir funktionieren nicht optimal, darum bin ich sehr froh, wenn wir einen Neubau kriegen“, sagt Lux.

Chiffre für den Aufbruch

Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, der aus den Koalitionsverhandlungen in Berlin wieder als Kultursenator hervorgegangen ist, hat den Neubau einer „Zentral- und Landesbibliothek“ zum wichtigsten kulturpolitischen Projekt der nächsten Legislaturperiode ausgegeben. Satte 270 Millionen Euro will Wowereit jetzt investieren; eine Riesensumme. Ein Bauwettbewerb soll 2012 ausgelobt werden, die Architektur auf dem Areal des ehemaligen Flughafengeländes in Tempelhof landen. Die mit 63.000 Quadratmeter Nutzfläche größte Bücherkiste in Berlin soll 2021 fertig sein und zugleich als Chiffre den Aufbruch Berlins in die moderne Bildungslandschaft des 21. Jahrhunderts sowie die Sprach- und Integrationsbemühungen der Stadt symbolisieren. Der Bau muss mindestens so spektakulär wie das Guggenheim-Museum in Bilbao werden.

Es nimmt kein Wunder, dass Klaus Wowereit als Leitidee den großspurigen Namen „Metropolenbibliothek“ ausgab. Niemand soll auf die Idee kommen, die Aufgabe für den modernen Bildungs- und Kommunikationstempel à la Centre Pompidou mit der für eine mittlere Stadtbibliothek zu verwechseln. Zugleich geht es dem Regierenden um einen wichtigen „big point“ in der hauptstädtischen Kulturpolitik – weil sein letztes Lieblingsprojekt, der Bau einer Kunsthalle, 2010 geplatzt war. Die Chancen für den neuen big point stehen ganz gut: Eine öffentliche Bibliothek ist populär, eine Bildungseinrichtung für breite Bevölkerungsschichten. Wowereits neuer Partner im Senat, die CDU, hat im Wahlkampf zwar noch gegen den Neubau in Tempelhof gepoltert. Im neuen Koalitionsvertrag steht die Bibliothek schwarz auf weiß. Ein cleverer Schachzug des Regierenden.

Es gibt noch keine Entwürfe, da haben Spötter das Mammutprojekt schon einmal „Wowereit-Gedenkbibliothek“ getauft in Anlehnung an die berühmte Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) – Berlins erster „Public Library“. Die AGB war 1954 von Fritz Bornemann als Symbol der Bildungs- und Meinungsfreiheit des freien Westberlin errichtet worden und war als zentral gelegene und moderne Universalbibliothek für die bildungshungrigen Berliner, die Leser und Studenten von hohem Nutzen.

Alles zentral?

Genau das ist bei der geplanten neuen ZLB die eigentliche Frage: So unbestritten richtig es ist angesichts wachsender Besucherzahlen, eine öffentliche Bibliothek aufbauen zu wollen, so exakt müssen ihre Rolle und ihr Mehrwert heute neu definiert werden. Braucht die Stadt eine neue zentrale Universalbibliothek oder hat sie nicht viele dezentrale Bibliotheken nötig? Wie hoch ist ihr Nutzen angesichts des kommenden Zeitalters digitaler Bibliotheken, die sich jeder auf sein Laptop laden kann? Welches Abgrenzungen gegenüber den Staatsbibliotheken muss eine ZLB haben?

Berlin ist heute einer der wichtigsten Produktionsorte der deutschen Literatur und der neuen Medien. Die Stadt und ihre Milieus sind als Schauplätze auch deren bevorzugte Themen. An Stätten für die Ablagerungen der Literatur ist Berlin seit der Teilung sogar überreich – ja doppelt besetzt, wie man sagt. Die Staatsbibliotheken am Kulturforum und an der Straße Unter den Linden besitzen die umfangreichsten und wertvollsten Bestände der Republik. Die populäre Zentral- und Landesbibliothek in Mitte und in der Kreuzberger AGB hat seit 2008 ihre Ausleihen auf knapp 4,5 Millionen gesteigert. Die Universitäten beherbergen zwei große Forschungsbibliotheken, darunter das neue Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum, die Zentralbibliothek der Humboldt-Universität Berlin, die 2009 eröffnete.

Eine Stärkung oder gar der Ausbau dieser Standortvielfalt stellen für Lux und Wowereit keine Optionen dar. Die knapp vier Millionen Bücher, die riesige Präsenzbibliothek plus die neuen Medien sollen unter das Dach einer hochfunktionalen Superbibliothek. Vorbilder für die „öffentliche Bibliothek der Zukunft“ sind die Openbaare Bibliothek in Amsterdam oder die neue High-Tech-Bücherei von Seoul mit zusätzlichen 22.000 Quadratmeter neuem Raum neben dem Altbau. Lux kommt ins Schwärmen, wenn sie diese beschreibt. Dort steht kaum ein Buch mehr im Regal, 700 Bildschirme flimmern im Lesesaal, es gibt Studios für eigene Musik- und Videoproduktionen, für Filmaufnahmen und ihre digitale Verarbeitung, eine Radiostation, komplett digitalisierte Kataloge und Archive, ein E-Book-Programm, Gastronomie und spezielle Veranstaltungsräume. Lux: „Die Bibliothek der Zukunft, wie es die ZLB sein muss, ist ein kulturelles Zentrum, ein Treffpunkt, ein Lernort für Millionen von Lesern, Usern und Besucher jährlich.“ Ein Innovationsprojekt? Mit Sicherheit.

Es ist der Generaldirektorin vorgehalten worden, mit ihrem 63.000 Quadratmeter umfassenden Raumprogramm für eine neue Super-ZLB sowohl dem umstrittenen Standort auf dem Flugfeld Vorschub zu leisten als auch den Charme der AGB sowie das dezentrale Konzept zu opfern. Sie verbrenne viel Geld – zum Vergleich werden die 75 Millionen Euro für das Grimm-Zentrum aktiviert – und mache sich auch noch zur Agentin des Regierenden Bürgermeisters und von dessen megalomanen Repräsentationswünschen.

Claudia Lux kontert solche Einwände mit zwei Bildern: Die alte ZLB sei ein stotternder Motor, die neue eine futuristische Bibliotheksmaschine. Ideen für ein gewaltiges Bücherraumschiff mag sie. „Für die Nutzer bringen die beiden jetzigen Standorte nur Nachteile. Viele Menschen müssen weite Wege gehen. Es ist leidvoll, wenn man einen Tag oder länger auf sein Buch warten muss.“ Die Flächen seien zu klein, die Doppelexistenz sei zu teuer.

Der Standortfrage sei man in der Debatte keineswegs aus dem Weg gegangen, betont sie. Dabei habe sich herausgestellt, dass die AGB mit ihren 8.000 Quadratmeter Nutzfläche sich nicht für einen Erweiterungsbau eigne. „Denn von den benötigten Volumen und Dimensionen würde die schlanke AGB regelrecht erdrückt werden, wenn man baut.“ Das Denkmal wäre erledigt. Klar, dass nur die Konzentration aller Funktionen, in einem großen Haus und mit guter öffentlicher Anbindung eine Lösung bietet – eben Tempelhof. „Ein idealer Standort“, findet sie.

Zankapfel Standort

Es gibt in Berlin nicht wenige, die das anders sehen. Der vorgesehene Bauplatz am südlichen Rand des Flughafengeländes sei der falsche, zumal die Zukunft des 350 Hektar großen Areals noch offen ist. Eine Bibliothek an dieser peripheren Stelle wäre zu abgelegen, eine Zentralbibliothek gehöre in die Stadt, sagen sie.

Im Oktober 2011 eröffnete der Bund Deutscher Architekten Berlin eine Ausstellung, die sich mit „40 pointierten Statements in den öffentlichen Diskurs“ um das Bibliotheksprojekt einbringen wollte. Dass unter den 40 Architekten auch solche waren, die visionäre Projekte auch auf dem Exflughafen landen ließen, ist evident. Überwiegend aber platzierten die Planer ihre Architektur-Ideen in den Zentren der Stadt – oder schlugen die Erweiterung der AGB vor. Es gibt am bestehenden Standort durchaus Raum für mehr, wie die Architektin Christine Edmaier vorführt. Am Hauptbahnhof, auf dem Gelände des Gleisdreiecks und an der Jannowitzbrücke, am Zoologischen Garten, an der östlichen Spree oder nahe dem Schlossplatz fanden die Architekten ebenfalls Flächen für eine Bibliothek. Auf eine Bibliothek am Rande Tempelhofs neben einem Gewerbegebiet mit Autobahnanschluss setzen sie nicht.

Die Standortdebatte wird in der Diskussion um die ZLB nicht der einzige Zankapfel bleiben. Zumal mit der aktuellen Eröffnung der neuen Stuttgarter Stadtbibliothek auf dem Niemandsland des Bahnareals die Frage nach der Urbanität einer solchen Institution erneut aufgeflammt ist.

Eine weitere Nuss hat die Direktorin zu knacken, gehört doch die ZLB mit einer kleinen edlen Bibliothek samt repräsentativen Räumen zu den drei möglichen Nutzern des Humboldtforums. Noch besteht das Gesamtpaket, auch Lux denkt nicht daran, ihre Räume im Schloss zu räumen. Aber andere – wie die Ethnologischen Museen – rütteln schon mächtig an dem umstrittenen Konzept. Ein Bau in Tempelhof könnte dies noch befördern. Er wäre sogar von Vorteil für das Humboldtforum. Man könnte die Frage der Nutzung des Schlosses wieder neu stellen.