Zu arm für ärztliche Hilfe

Kinder- und Jugendpsychiater: Kinder aus Problemfamilien kommen nicht in die Praxis, sie müssen aufgesucht werden

Wer arm ist, geht nicht zum Psychiater. Auf diese Formel lässt sich der gestrige Appell des Berufsverbandes für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie bringen. Auf ihrer Jahrestagung in Bremen hätte sich der subjektive Eindruck der Ärzte bestätigt, so der Bremer Kinderpsychiater Stefan Kette. In den letzten Jahren beobachte er zunehmend, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr zu ihm schickten, weil sie sich beispielsweise den Bus nicht mehr leisten können. Oder kein Telefon haben, um Termine zu vereinbaren. Oder in zu chaotischen Verhältnissen leben, um vereinbarte Termine einhalten zu können. Verschärft werde das Problem dadurch, dass ausgerechnet in den Stadtteilen, in denen Kinder besonders gefährdet sind, psychische, psychosoziale oder psychosomatische Störungen zu entwickeln, es so gut wie keine ärztliche Versorgung gebe, sagte Kette. „Wir sind ein weißer Fleck auf der Landkarte“, bestätigte Hermann Josef Stell, Rektor einer Grundschule in Blockdiek. „Die Kinderpsychiater sitzen im Viertel, in Schwachhausen und der Neustadt.“ An seiner Schule versuche man deshalb, mit einem Schulpsychologen und einem Familientreff Eltern zu unterstützen.

Die Konsequenz aus dem Erfahrungsaustausch müsse sein, sich stärker mit der Jugendhilfe zu vernetzen, sagte die Vorsitzende des Berufsverbandes, Christa Schaff. „Wir brauchen mehr aufsuchende Arbeit.“ Etwa ein Fünftel bis ein Viertel der unter 18-Jährigen zeigten entweder ein auffälliges Sozialverhalten wie Aggressivität und Hyperaktivität oder litten unter Depressionen, Zwängen und Ängsten oder psychosomatischen Störungen wie Bauch- und Kopfschmerzen sowie Essproblemen. Theoretisch ließen sich alle Patienten und Patientinnen behandeln, so der Kinderpsychiater Kette. „Die Versorgungslage ist in Bremen sehr gut.“ Dies gilt aber offenbar nur für die psychiatrische Versorgung. Therapieplätze seien in Bremen nach wie vor Mangelware, klagt Jutta Diederichs von der Beratungsstelle des Mädchenhauses Bremen. „Mädchen müssen oft monatelang auf einen Therapieplatz warten“, sagt Diederichs. Besonders unerträglich sei diese Situation für Jugendliche, die wegen einer Essstörung in der Klinik waren und diese symptomfrei, aber nicht geheilt verlassen haben. „Wenn die vier bis fünf Monate warten müssen, haben die wahrscheinlich schon wieder angefangen.“

Thema auf der Tagung war außerdem die Behandlung von traumatisierten Flüchtlingskindern. Er behandle einen tschetschenischen Jungen, der regelmäßig schlimme Albträume bekomme, wenn seine Eltern wieder einmal um die Verlängerung ihrer Duldung bangen müssten, sagte der Arzt Kette. eib