Die Sortiermuster noch im Kopf

Sieben gibt es in Schleswig-Holstein schon, aber reibungslos funktionieren die noch nicht: An den neuen Gemeinschaftsschulen müssen die Lehrer teils sogar das Unterrichtsmaterial selbst schreiben

Mit Beginn dieses Schuljahres sind in Schleswig-Holstein die ersten Gemeinschaftsschulen gestartet. Dort bleiben die Kinder bis Klasse zehn zusammen und können unter einem Dach den Haupt- oder Realschulabschluss sowie den Übergang zur gymnasialen Oberstufe erreichen. Zurzeit können bestehende Haupt- oder Realschulen in Gemeinschaftsschulen umgewandelt werden. Die Mindestschülerzahl liegt bei 300. Gesamtschulen werden bis zum Schuljahr 2010/11 in jedem Fall zu Gemeinschaftsschulen. Haupt- und Realschulen, die dies nicht wollen oder zu klein sind, schließen sich zu Regionalschulen zusammen. Dort wird unter einem Dach, aber stärker differenziert unterrichtet. EST

VON ESTHER GEISSLINGER

Das Seil wackelt, aber Janne und Lysann schaffen die schwankende Tour schon ganz gut. Demnächst balancieren die beiden durch die Manege, für eine Zirkusvorstellung an der Schule. Eltern, Omas, Geschwister werden sicher zuschauen, vielleicht sind weitere Gäste dabei: Die Schule in Handewitt, einem Ort bei Flensburg, bekommt zurzeit viel Besuch. Schließlich zählt sie zu den sieben in Schleswig-Holstein, die seit den Sommerferien Gemeinschaftsschulen sind. Damit gehören Janne und Lysann zu den ersten Schleswig-HolsteinerInnen, die nicht nach Klasse vier sortiert wurden. An der Gemeinschaftsschule werden die Kinder bis Klasse zehn gemeinsam unterrichtet, in einem Klassenverband und in der Regel ohne Sitzenbleiben.

Politisch war das Modell lange zwischen den Großkoalitionären in Schleswig-Holstein umstritten: „Einheitsschule“, schimpfte die CDU, die FDP sagt bis heute, der gemeinsame Unterricht sei ein „Experiment am lebenden Schüler“. Janne sieht das anders: „Gemeinschaftsschule ist gut, weil alle den gleichen Stoff kriegen.“ Lysann fügt hinzu: „Ich finde gut, dass man alle Abschlüsse machen kann.“ Die beiden Zehnjährigen wollen mindestens bis zur Realschul-Prüfung in der Schule bleiben.

Die Handewitter Schule, ein lang gezogenes, eingeschossiges Gebäude, an das sich der Kindergarten der Gemeinde und Sportstätten anschließen, brodelt an diesem Nachmittag vor Leben: Viele Kinder besuchen die Ganztagsangebote, basteln oder turnen, sitzen am PC oder in der Teestube. Sabine Johannsen, Vorsitzende des Förderkreises „Freunde der Schule im Amt Handewitt“ und Mutter von fünf Kindern, von denen drei noch die Schule besuchen, lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen: Früher schmierten Eltern und Lehrkräfte Brote für die Nachmittagskinder, inzwischen wurde ausgebaut, umgestaltet, die Kurse sind bestens besucht. „Es ist richtig was los an der Schule – es ging wie ein ‚Ah!‘ durch Handewitt“, sagt Johannsen.

Das sieht auch ihr Namensvetter, Schulleiter Dr. Hans-Werner Johannsen, so: „So viel Bewegung war nie im Bildungssystem.“ Dass Handewitt zu den ersten Schulen des neuen Typs gehört, gefällt dem Rektor gut: „Wir haben viele Freiheiten, wir können ausprobieren.“ Allerdings weiß er auch um die große Verantwortung: „Wir müssen natürlich dafür sorgen, dass alle Kinder, starke wie schwache, richtig gefördert werden und dass die Leistung stimmt.“ Aber unüberwindlich sei das Problem keineswegs: „In der Grundschule klappt gemeinsamer Unterricht ja auch, und damit haben wir alle Erfahrung.“

Tatsächlich haben sich für die heutige Gemeinschaftsschule eine reine Grund- sowie zwei Grund- und Hauptschulen zusammengetan, verteilt auf drei Orte. Zurzeit muss auch noch nach verschiedenen Systemen unterrichtet werden, schließlich haben sich nicht alle Kinder in GemeinschaftsschülerInnen verwandelt: Für die Jugendlichen jenseits der Klasse fünf gelten die alten Hauptschulregeln. Für Jannes und Lysanns Jahrgang müssen die Unterrichtsmethoden erst noch entwickelt werden. Aber das 69-köpfige Lehrerkollegium hat sich mit Schwung auf die Aufgabe gestürzt: So begann das Schuljahr mit einem Ausflug für alle Fünfklässler plus „Jahrgangsteam“. „Wir haben eine ehemalige Waldorflehrerin und einen Kollegen von der Gesamtschule“, sagt Johannsen. „Die beiden machen uns anderen Mut.“

Aber nicht alle sehen das neue System so positiv wie die Handewitter. „Über uns hängt als Damoklesschwert, dass wir etwas entwickeln, und irgendwann kommen Erlasse, die alles ändern“, sagt Rolf Jacoby, Rektor der Gemeinschaftsschule in Kellinghusen. Dort verschmolzen zu Beginn des Schuljahres eine Haupt- und eine Realschule. Die Gemeinde kann zufrieden sein: Sogar aus der Kreisstadt Itzehoe meldeten Eltern ihre Kinder an, die neuen fünften Klassen sind gut belegt.

Anders als in Handewitt befanden sich die beiden Schulen ohnehin unter einem Dach, in einem grauen Bau aus den 70er Jahren, der durch einige Anbauten aufgelockert wird. Aber der Weg von einer Schule zur anderen scheint dennoch weit: Das Kollegium habe sich nicht richtig auf die neuen Regeln einstellen können, und es bleibe zu wenig Zeit, um den veränderten Unterricht vorzubereiten und zu gestalten: Sogar ihre Unterrichtsmaterialien müssen die Lehrkräfte selbst schreiben, denn Bücher für alle gibt es nicht zu kaufen.

„Wir haben einen Riesensack mit Themen vor uns, gleichzeitig läuft der Alltag weiter“, sagt Jacoby. Wie in Handewitt gelten in Kellinghusen verschiedene Regeln: In den fünften Klassen wird mit neuen Lernformen, mit Teams, mit Stunden für gemeinsames Lernen gearbeitet, die älteren Kinder gehören in die Haupt- oder Realschule, getrennt unter einem Dach.

Wie es ganz ohne Trennung gehen könnte, sehen Jacoby und seine Kollegen noch nicht. Jahrzehntelang wurde in deutschen Schulen sortiert – und jetzt soll das Kollegium unvoreingenommen an alle Kinder herangehen? Schwierig. „Man hat doch selbst das Muster im Kopf“, sagt der Schulleiter. Zurzeit probieren die LehrerInnen aus, wie das Nicht-Sortieren, das gemeinsame Lernen gehen könnte – mit vorsichtigen Schritten, als balancierten sie auf schwankenden Balken.