Musik als lautes Denken

SPIEL OHNE GRENZEN Die Berliner Echtzeitmusik-Szene in geballter Form: Das Splitter Orchester bringt ihre Protagonisten in der Wabe zusammen, ein Sammelband gibt einen umfassenden Überblick

Mitunter „reduzierte“ man die Musik auf feinste Nuancierungen von kaum hörbarem Geräusch

Am Samstag ist es wieder so weit: Dann gibt das Splitter Orchester, ein Ensemble aus 24 namhaften Vertretern der frei improvisierenden Berliner Echtzeitmusik-Szene, ein öffentliches Konzert in der Wabe. Die Formation ist immer noch ungewöhnlich, handelt es sich bei den Musikern doch um erklärte Individualisten. Die spielen zwar gern zu mehreren, aber nie auf Kommando gemeinsam, was bei einem Orchester im Allgemeinen sonst üblich ist.

Wie es sich für Improv-Musiker gehört, wird auf einen Dirigenten konsequent verzichtet, und Partituren kommen ebenfalls nicht zum Einsatz. Um bei einer solchen Größe, 24 Musiker, noch den eigenen Vorstellungen von musikalischer Freiheit kollektiv gerecht werden zu können, ist einiges an Selbstorganisation vonnöten. Dass die Splitter-Künstler dazu in der Lage sind, haben sie in der Vergangenheit hinreichend unter Beweis gestellt, so etwa bei ihrem ersten großen Berliner Konzert im Radialsystem vor fast genau einem Jahr.

Auch sonst ist die Szene, die Musiker weit über die Grenzen Berlins hinaus anzieht, bestens vernetzt. Täglich gibt es irgendwo in der Stadt „Echtzeitmusik“ zu hören, die Termine finden sich, oft unbemerkt von den großen Veranstaltungskalendern, auf der Seite www.echtzeitmusik.de. Offline kann man sich jetzt sogar noch gründlicher über diese Bewegung von ihrer Entstehung bis zur Gegenwart informieren, und zwar mit dem Band „Echtzeitmusik Berlin. Selbstbestimmung einer Szene/Self-Defining a Scene“.

Die Herausgeber – die Musiker Burkhard Beins, Christian Kesten, Andrea Neumann und die Musikwissenschaftlerin Gisela Nauck – haben Beiträge von Kollegen und Beobachtern versammelt, die der Geschichte der Echtzeitmusik nachgehen. Das beginnt bei deren Anfängen Mitte der Neunziger im Osten Berlins in Läden wie dem einstigen „Anorak“ in der Dunckerstraße und reicht bis zur Gegenwart. Theoretisch-ästhetische Fragen zur eigenen Positionsbestimmung oder zu zentralen Begriffen wie „Reduktionismus“ werden erörtert oder die Protokolle der Gesprächsrunden des „Labor Diskurs“ dokumentiert, in denen die Echtzeitmusiker kontroverse Selbstverständigung betrieben. Man lernt dabei eine Form von radikaler improvisierter Musik kennen, die, obwohl viele ihrer Mitstreiter eine klassische Ausbildung haben, stets auf Abstand zur etablierten akademischen „zeitgenössischen“ Musik blieb und besonders in ihrer Anfangszeit auf eine Vielzahl von musikalischen Gesten verzichtete, mitunter „reduzierte“ man die Musik auf feinste Nuancierungen von kaum hörbarem Geräusch.

Immer wieder wird der Begriff der Echtzeitmusik umkreist und klargestellt, dass er kein homogenes Phänomen benennt, sondern eher eine bestimmte ästhetische Haltung, die sich in „kollektiv-interaktiven Arbeitsprozessen“ ausdrückt – und vor allem Sammelbezeichnung für einen bestimmten Kreis von Berliner Musikern und Orten ist. Besonders schön bringt der Cellist Nicholas Bussmann „seine“ Echtzeitmusik auf den Punkt: „Meine Musik war lautes Denken, der Augenblick hatte Wert, der Rest war schon Vergangenheit.“

Der Band ist dank seiner sorgfältigen Ausstattung weit mehr als eine Sammlung von Artikeln und Interviews. Neben einem großen Namens- und Sachregister – wie die Einzelbeiträge auf Deutsch und Englisch gehalten – gibt es ausführliches Bildmaterial von alten und neuen Spielstätten, Musikerfotos und Kurzbiografien der Künstler. Viele von ihnen kann man am Samstag in der Wabe antreffen.

TIM CASPAR BOEHME

■ Splitter Orchester, 26. 11., 21 Uhr, Wabe ■ Burkhard Beins, Christian Kesten, Gisela Nauck, Andrea Neumann (Hg.): „Echtzeitmusik Berlin. Selbstbestimmung einer Szene/Self-Defining a Scene“. Wolke, Hofheim 2011, 416 Seiten, 29 Euro