„Geschwister haben keine Lobby“

Die Sozialwissenschaftlerin Marlies Winkelheide hat das Modell der „Bremer Geschwistergruppe“ entwickelt. Aufbauend auf der Pädagogik von Janusz Korczak sucht sie nach Möglichkeiten, die Brüder und Schwestern zu unterstützen, denen zuhause manchmal nur eine Nebenrolle zukommt

MARLIES WINKELHEIDE, 59, arbeitete nach dem Studium der Sozialwissenschaften 22 Jahre als Referentin für den Bereich „Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen“ im Niels-Stensen-Haus. Seit acht Jahren entwickelt sie auf freiberuflicher Basis Angebote für die Geschwister behinderter Menschen.

Interview: Henning Bleyl

taz: Frau Winkelheide, jede Familiensituation ist anders. Was sind nichtsdestotrotz ähnliche Erfahrungen, die Geschwister von behinderten Kindern machen?

Marlies Winkelheide: Gemeinsam ist, wie sehr sich ihre Rolle in der Familie ändert, wenn ein behinderter Bruder oder eine schwer kranke Schwester geboren wird. Kinder, die mit Einschränkungen leben müssen, sind „Aufmerksamkeitsverbraucher“ – so hat das ein Vater mal ausgedrückt.

In Ihrem Buch „Ich neben Dir – Du neben mir“ berichten Geschwister von dem Druck, zum Teil auch selbst produziert, möglichst unauffällig zu sein, weil die Eltern ohnehin schon überlastet sind. Wie können die Gruppen da helfen?

Wir bieten einen geschützten Raum, in dem man erfährt: Ganz vielen anderen geht es ebenso. Zu den beiden neuen Gruppen, die heute beginnen, haben sich immerhin 50 Kinder angemeldet. Wir arbeiten im Wechsel von Plenum und Arbeitsgruppen, zum Beispiel mit Klangspielen, bei denen man erlebt: Jeder hat seinen eigenen Ton. Und: Man kann auch ganz leise Töne hören. In der letzten Gruppe haben wir uns viel mit Magneten beschäftigt, da ging es um die Frage: Was halte ich fest? Andere Themen sind, wie melde ich mich zu Wort. Das Problem ist oft: Meine Schwester darf etwas, was ich nicht darf, aber man kann so schlecht mit seinen behinderten Geschwistern konkurrieren. Bei Beziehungen zwischen Geschwistern unterschiedlichen Alters gibt es auch solche Probleme, aber da ändert sich mit der Zeit etwas. Bei behinderten Geschwistern ist es so, dass sie immer ein Stück mehr Aufmerksamkeit brauchen.

Entsteht auch Wut auf behinderte Geschwister, weil ihretwegen jeder Familienausflug logistisch durchgeplant werden muss und man ständig auffällt?

Es ist eher eine Wut auf die schwierige Situation, nicht auf die Geschwister selbst.

Wie ist es denn umgekehrt: die Perspektive der behinderten Kinder auf ihre Geschwister?

Die kommt im Rahmen der Familienseminare vor. Man kann alle beteiligen, manchmal funktioniert die Kommunikation dann über eine Symbolsprache, durch die klar wird: Ich will auch können, was du kannst. Allerdings ist es sehr davon abhängig, inwieweit die Eltern überhaupt zulassen, dass das offen thematisiert wird. Behinderung ist eine Lebensform wie jede andere auch, aber das Wort ist in der Gesellschaft oft verpönt – daher vermeiden es viele Familien, um ihre Kinder nicht zu verletzen. Die Geschwister sagen also: Ich habe „eine besondere Schwester“. Und dann frage ich: Wie bezeichnest Du denn dann Dich?

Sie arbeiten in altersgemischten Gruppen, die sich alle vier, fünf Wochen für ein Tagesseminar treffen. Warum treffen Sie sich nicht wöchentlich?

Das halte ich nicht für notwendig. Wenn ein Kind eine zusätzliche Frage hat, kann es sich jederzeit zwischendrin an mich wenden. Die Altersmischung ist wichtig, weil sich die Kinder gegenseitig helfen. Die Älteren hören von Problemen, die sie schon bewältigt haben, und die Jüngeren sehen: Man kann sie bewältigen. Ein Kind sagte mal: Früher habe ich meiner Puppe alles erzählt, jetzt habe ich die Selbsthilfegruppe.

Wie steht es mit einem etwaigen schlechten Gewissen – laufen, sprechen und alles essen zu können?

Es kommt immer wieder die Frage: Darf ich glücklich sein, dass ich nicht behindert bin? Natürlich darf man das. Es wird auch als „Verrat“ empfunden, wenn man nicht jederzeit widerspricht, wenn irgendwo über Menschen mit Behinderung gelästert wird. Dabei ist es wichtig, die jeweilige Situation richtig einzuschätzen, um entsprechend zu reagieren.

In den Berichten der Geschwister aus den verschiedenen Generationen liest man immer wieder auch von bereichernden Erfahrungen.

Die Bremer Geschwister-Arbeit geht auf eine Initiative von Eltern behinderter Kinder zurück: Anfang der 80er Jahre regten sie im Worphauser Niels Stensen-Haus an, neben der Elternarbeit und den integrativen Seminaren auch Angebote zu machen, in denen ihre nichtbehinderten Kinder mal unter sich wären. Seitdem hat Marlies Winkelheide, zusammen mit der Musikpädagogin Charlotte Knees und basierend auf der Pädagogik von Janusz Korczak, spezifische Angebote entwickelt.

Mittlerweile haben Winkelheide/Knees zahlreiche Bücher verfasst, etwa „Geschwister sein, dagegen sehr“ und „Ich neben Dir – Du neben mir“, das vergangenes Jahr im Geest-Verlag herauskam. 2008 erscheint „Sei an meiner Seite“, ein Buch über professionelle Geschwister-Begleitung. Mit der „Lebenshilfe“ als Trägerin betreibt Winkelheide die bundesweit erste Beratungsstelle für Geschwisterkinder. Infos: ☎ (0421) 38 77 70 und unter www.geschwisterkinder.de. HB

Selbstverständlich. Die Geschwister werden sehr sensibel für soziale Situationen und lernen, dass es unterschiedliche Formen des Lebens gibt. Viele sagen im Rückblick, dass diese familiäre Erfahrung sehr wichtig für ihre Werteentwicklung war: Für die Erkenntnis, dass nicht nur Leistung zählt. Dass man unabhängig von Leistung geliebt wird.

Sie arbeiten seit 25 Jahren mit behinderten Kindern und deren Angehörigen. Was hat sich in dieser Zeit verändert?

Unsere Gesellschaft ist insgesamt weniger eine Solidargemeinschaft, der soziale Druck wird wieder größer. Eltern mit behinderten Kindern bekommen zu hören: „Das hättest du nicht haben müssen“ – weil es seit ein paar Jahren die pränatalen Diagnosemöglichkeiten gibt.

Die „Bremer Geschwistergruppe“ gilt als Modell. Warum wird es nicht andernorts praktiziert?

Es gibt inzwischen viele Initiativen, die Seminare, Freizeitangebote und Erlebnispädagogik anbieten. Allerdings sind das oft punktuelle Möglichkeiten, zum Beispiel gibt es weder in Hamburg noch in Hannover eine behinderungsübergreifende, unabhängige und kontinuierliche Arbeit. Wenn Leute aus Köln mit ihren Kindern zur Bremer Geschwistergruppe reisen, dann spüren deren Kinder: Meine Eltern engagieren sich für mich. Und die Eltern merken, wie sehr sich das Selbstbewusstsein ihrer Kinder positiv verändert.

Wir haben noch nie jemanden aus finanziellen Gründen zurückgewiesen, obwohl unsere Arbeit allein durch die Beiträge der Eltern und durch Spenden getragen wird. Es gibt keine Lobby für Geschwister.