Milchschaum ante portas

AUFWERTUNG Wird jetzt auch der Wedding bürgerlich? Künstler und Kreative ziehen seit Jahren in den Ortsteil, das Gespenst der Gentrifizierung geht um. Aber noch überwiegen die positiven Effekte des Strukturwandels die drohende Verdrängung

„Bezahlbaren Wohnraum gibt es im Wedding nach wie vor“

DEGEWO-SPRECHER LUTZ ACKERMANN

VON ANNA KLÖPPER

An der Ecke Koloniestraße/Osloer Straße, hat irgendjemand einen Schriftzug an ein leer stehendes Ladenlokal gesprüht: „Gentrify this!“ Die Medien wollen es seit Jahren wissen: Der Wedding mache es Neukölln nach, werde hip und schick. Erst öffneten Künstler und Kreative ihre Projekträume, die bürgerlichen Besserverdiener und ihre Latte-macchiato-Cafés folgten.

Zumindest die Künstler sind längst da: Unbeeindruckt von allen Trendbekundungen machen Vereinigungen wie die Kolonie Wedding seit zehn Jahren erfolgreich kreative Arbeit im Kiez. Auf der Suche nach Kunst, Kaffee und Gentrifizierung in Weddinger Werkstätten, Ateliers und Nachbarschaftsetagen wird schnell deutlich: Der Wedding bewegt sich, aber drei neue Galerien machen noch keinen Trend. Außerdem kann die Aufwertung eines Viertels durchaus auch positive Seiten haben – für alle.

„Wat soll’n dit darstellen?“

Eine seltsame Kreatur wankt aus dem Haus mit der Nummer neun in der Grüntaler Straße am S-Bahnhof Gesundbrunnen. Oberkörper und Kopf unter meterweise Packpapier und Klebeband verborgen, die Beine in enge schwarze Leggings gezwängt, taumelt das merkwürdige Wesen wie ein überdimensionales Papierknäuel den breiten Bürgersteig entlang. Ein verirrtes Touristenpaar aus Bayern macht schnell ein paar Fotos. Eine Frau mit Netto-Tüten in der Hand schließt die Tür nebenan auf, guckt kurz auf den Packpapier-Menschen. „Wat soll’n dit bitte darstellen?“ ruft sie, und als keine Antwort kommt: „Wisst ihr ooch nich, wa?“ Kopfschüttelnd verschwindet sie im Haus.

Draußen auf dem Bürgersteig geht die Vorstellung weiter. Was sie, bitte schön, darstellen soll, erklärt ein Flyer im Schaufenster des ehemaligen Ladenlokals, das seit vergangenem Mai „Projektraum Grüntaler 9“ heißt: Urbane Räume im Wandel der Zeit ist das Thema des Mannes unter dem Packpapier, des indischen Performance-Künstlers Nikhil Chopra, und seiner Partnerin, der japanischen Choreografin und Regisseurin Yuko Kaseki. „9 Encounters, Meetings, Passages“ haben die beiden ihre Choreografie getauft: Tokio, Bombay, Berlin als Orte von Sehnsüchten, Erinnerungen und Traumata.

Keine leichte Kost für den zufälligen Spaziergänger, sollte man meinen, doch Tina Lange ist zuversichtlich. „Die Resonanz auf unsere Projekte ist gut“, sagt die Doktorandin vom Forschungszentrum „Verflechtungen von Theater und Kulturen“ an der Freien Universität Berlin, die die Projekte in der Grüntaler 9 koordiniert. „Es gibt viele Studenten und Freiberufler hier und vor allem viel internationales Publikum – aus Israel, Kanada, Frankreich“, zählt Lange auf, und man schaut zur Sicherheit noch mal auf das Straßenschild an der Ecke, ob man sich nicht doch aus Versehen an die Torstraße in Mitte oder wenigstens in den Neuköllner Schillerkiez verirrt hat.

Nein, Tina Lange spricht tatsächlich vom Wedding und so wie sie schwärmen viele von einer Gegend, in der man vor zwei Jahren noch den Filterkaffee beim Türkenbäcker kaufte und das Dosenbier beim Spätkauf. Die Zeiten haben sich zumindest in der Grüntaler Straße geändert, nun gibt es Milchschaumspezialitäten im „Süßen Café“ zur Linken und niederländisches Importbier in der Bar zur Rechten der Grüntaler 9. Und sowohl das Süße Café als auch die Bar ohne Namen mit dem grünen, verkehrt herum montierten F über der Tür können bestens davon leben.

Kundschaft ist ja vorhanden: Eine Tür weiter eröffnet mit dem Studio 8 bereits die nächste Kreuzung aus Bar und Projektraum. In nur etwas mehr als einem Jahr sind hier insgesamt vier neue Läden in unmittelbarer Nachbarschaft entstanden, die alle etwa die gleiche Zielgruppe ansprechen: Kreative, Künstler, StudentInnen. Alles Szeneleute, denen Neukölln schon wieder zu hip beziehungsweise zu teuer ist?

Iris Wessolowski, beim Projektraumverbund Kolonie Wedding mitverantwortlich für die Künstler- und Projektkoordination, hebt abwehrend die Hände: „Wir sehen das alles ein bisschen unaufgeregter. Die meisten Künstler sind schon seit zehn Jahren hier. Diesen angeblichen Druck von außen auf den Bezirk merken wir bis jetzt noch nicht.“ Auch wenn hier mal ein Laden aufmache und dort ein Atelier schließe – die Künstler blieben doch mehr oder weniger dieselben, meint Wessolowski: „Das sind eher langsam gewachsene Strukturen, mit Trend hat das nicht so viel zu tun.“

Es sind durchaus nachhaltige Strukturen, die zeigen, dass Aufwertungsprozesse nicht notwendigerweise negativ verlaufen müssen: Ein Vertrag mit der größten landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Degewo sichert den Künstlern der Kolonie Ladenräume zu günstigen Konditionen, die sonst leer stehen würden. Die Künstler bleiben, dem Kiez bleibt dafür die nächste Discounterfassade und das Casino daneben erspart. Aber nicht nur die Kolonie Wedding zeigt, wie Kulturarbeit der Lebensqualität im Quartier zugutekommen kann. Die Uferhallen am Gesundbrunnen und das Gelände der ehemaligen Rotaprint-Druckerei an der Gottschedstraße sind weitere Beispiele. Die Uferhallen AG will als Publikumsgesellschaft mit Bürgerbeteiligung langfristig ein Kunst- und Kreativzentrum etablieren, die Gesellschafter von ExRotaprint investieren als gemeinnützige GmbH die Mieteinnahmen durch die Künstler auf dem Gelände in die langfristige Sicherung des Gebäudekomplexes als Kulturzentrum.

Eine Debatte, die nervt

Zudem werkeln viele Kreative mitnichten nur an der nächsten Ausstellung für das befreundete Vernissage-Publikum. Oft machen sie Stadtteilarbeit im besten Sinne. Etwa Nicola Caroli von der Poesiewerkstatt wortwedding in der Prinzenallee: Seit Februar bietet sie mit ihrem fünfköpfigen Team Poesieworkshops für Kinder an – in wechselnden Kooperationen mit Weddinger Grundschulen, dem Labyrinth Kindermuseum, einem Stadtteiltreffpunkt in der Koloniestraße und der Bibliothek am Luisenbad. Die Gentrifizierungsdebatte nervt Caroli: „Ich will eigentlich was Gutes machen, und dann ist es wieder schlecht, weil durch solche Kunstprojekte der Kiez attraktiver wird und vielleicht irgendwann die Mieten steigen.“ Was denn die Alternative zum Engagement im Kiez sei, fragt Caroli. Nichts tun?

Das alte Dilemma also: Einerseits sollen problematische Kieze durch Stadtteilarbeit lebenswerter werden, sind Kreative und Künstler willkommen. Gelingt es aber, das Straßenbild aus zugeklebten Casino-Fenstern, Wettbüros und Nagelstudios aufzubrechen, steht gleich wieder die Verdrängung durch Mietpreissteigerungen im Raum.

Für Degewo-Sprecher Lutz Ackermann ist Aufwertung erst einmal nichts Schlechtes, im Gegenteil: Er würde die Gentrifizierungsdebatte gerne differenzierter betrachten. „Wenn es im Viertel eine Monostruktur aus einkommensschwachen Bewohnern gibt, wirkt sich das negativ auf das gesamte Quartier aus, auch auf die Bildungslandschaft. Irgendwann will keiner mehr hinziehen.“ Von einer Mischung der Sozialstruktur profitierten alle, sagt Ackermann: „Natürlich ist es für die Degewo auch wirtschaftlich interessant, in erster Linie aber wirkt eine heterogene Nachbarschaft stabilisierend auf den Kiez.“ Zudem stehe das landeseigene Unternehmen in der Verantwortung, bezahlbaren Wohnraum für Einkommensschwache zu bewahren. „Und den gibt es im Wedding nach wie vor“, betont Ackermann.

Tatsächlich zeigt ein Blick auf den Mietspiegel 2010: Bis auf ein kleines Gebiet nördlich und östlich des Schillerparks, das in die Kategorie „mittlere Wohnlage“ fällt, wohnt man im Wedding „einfach“. Dennoch spricht Hendrik Brauns, beim Quartiersmanagement (QM) zuständig für Jugend und Öffentlichkeit, von „gewissen Ängsten“ der Bewohnerschaft, die vielleicht „nur gefühlt“, aber dennoch Thema seien. „Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, mit denen wir kooperieren, erzählen von Familien, die wegen steigender Mietpreise bereits weggezogen sind.“

Die einen gehen, andere kommen? So dramatisch ist es wohl nicht. Doch hört man sich ein wenig um unter den neuen Cafébetreibern und Ladenbesitzern, wird deutlich, dass sich zunehmend neue Kundschaft das schmuddelige Anhängsel im Norden der schicken Mitte erschließt. „Neben Studenten kommen immer mehr Familien und Mütter aus Prenzlauer Berg oder Mitte zu uns, die hier ihren Kaffee trinken“, erzählt die schwedische Bedienung im Süßen Café. Erstere haben es nicht weit vom Mauerpark, Letztere finden oft einfach keinen Platz mehr für ihre Kinder in den überfüllten Kitas der Nachbarbezirke.

Designermode für Kinder

Kerstin Janssen macht ähnliche Erfahrungen. Im Juni hat sie ihren Kinder-Second-Hand-Laden Gemischtwaren in der Eulerstraße nebenan eröffnet. Neben getragenen Sachen bietet sie auch Designerkleidung für Kinder und handgenähte Taschen für Erwachsene an. Der Laden läuft gut, auch die teure Neuware wird Janssen los. „Vor zwei Jahren hätte es wenig Sinn gemacht, hier einen solchen Laden zu eröffnen“, meint sie. „Mittlerweile hat sich die Bevölkerungsstruktur aber sehr gewandelt. Man merkt, dass der Prenzlauer Berg rüberzieht.“

Ruth Ditschkowski von der Nachbarschaftsetage Osloer Straße, 1986 als Stadtteiltreffpunkt und Veranstaltungsort für Off-Kultur ins Leben gerufen, mag jedenfalls nicht gleich einen Trend ausrufen, nur weil ein paar neue Läden und Cafés eröffnen. Sie freut sich einfach, „dass sich hier was tut“. Das Schlagwort „Aufwertung“ will Ditschkowski nicht unbedingt negativ besetzt sehen: Insbesondere seit 1999 die Quartiersmanagements im Rahmen des Programms Soziale Stadt ihre Arbeit aufgenommen hätten, sagt sie, seien die BürgerInnen aktiver geworden und wollten den Kiez durch verschiedene Initiativen und mit Geldern des Quartierfonds gestalten. „Ich finde das positiv.“

Auch Jochen Küpper, Geschäftsführer bei Stattbad Wedding, versteht die Aufregung nicht. Seit 2009 wird das alte Stadtbad in der Gerichtstraße als Eventraum für zeitgenössische Kunst genutzt, vor allem Street-Art wird hier gezeigt. „Es gibt hier so viele Alteingesessene, und die kreative Szene ist erst noch im Kommen“, findet Küpper.

Vielleicht muss man einfach nur ab und zu in der Grüntaler Straße vorbeischauen. Solange eine Frau mit Netto-Tüten ihre Meinung vor der Galerie kundtut, ist wohl noch alles in Ordnung im Wedding.