Dem Abriss trotzen

Schrumpfende Städte, weite Gedanken: „Heaven (zu tristan)“ von Armin Petras im Maxim Gorki Theater versucht, den Himmel zu stürmen

Die Körper stehen oft unterbeschäftigt in der Gegend rum – nichts mehr ist zu tun Der Autor möchte seinen Figuren den Trost geben, Teil eines Ganzen zu sein

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Eine kleine Schachtel bildet minutenlang das Zentrum der Aufmerksamkeit. Helga hat sie gekauft: Es sind die Tabletten, mit denen sie und ihr Mann Königsforst sich umbringen wollen, herausgedrängt aus ihrem alten Leben und ohne Ausblick auf ein neues. Nun fummelt Peter Kurth als Königsforst auf der Bühne des Maxim Gorki Theaters mit klammen Fingern verzweifelt an der Schmuckverpackung, denn Helga (Susanne Böwe) hat, weil sie eben Helga ist, das Mittel zum letzten Schritt wie ein Geschenk verpacken lassen. Es ist Königsforst letzte Chance, seine Kompetenz als Mann und Leittier zu beweisen; man leidet mit ihm, wie er mit rotem Papier und Bändchen kämpft und sich nicht helfen lassen will. Aber als er beginnt, die Kordel sorgfältig aufzurollen und den Beipackzettel zu lesen, ahnt man auch, wie oft er Helga den letzen Nerv geraubt hat.

Es sind solche Miniaturen, die ganz nah am Abgrund spielend den Blick plötzlich auf absurde Details lenken und mit sanftem Slapstick die Geschichte von 30 Jahren Ehe in wenigen Augenblicken aufscheinen lassen, mit denen der Regisseur Armin Petras auch in „Heaven (zu tristan)“ wieder glänzt. Königsforst und Helga, man gewinnt sie schnell lieb und hört ihnen bereitwillig zu: wie sie von dem Tag erzählt, an dem die Filmfabrik in Wolfen schloss, in der sie so lange gearbeitet hat; noch ein wenig den Begegnungen der Frauen in der Dunkelkammer nachschmeckt und den entwickelten Bildern von Betriebsfeiern. Einst stand sie Modell für das Denkmal der optimistischen Arbeiterin. Jetzt sieht sie aus dem Fenster und sieht nur noch das Sozialmobil, die Leichenwagen für die Alten und die Möbelwagen für die Jungen. Eine Stadt wird aufgegeben.

Viel zu tun auf der Bühne hat keiner mehr von denen, denen wir da beim Leiden zusehen, und ihre Körper stehen oft etwas unterbeschäftigt in der Gegend rum. Wenn sie nicht gar gleich von Anfang an nur wie ein Häufchen Elend auf dem Boden liegen wie Simone (Fritzi Haberlandt), noch eine Selbstmordkandidatin, diesmal aber aus Liebeskummer. Ihr Anders, ein Architekt, der aufbauen will, ist geflohen aus diesem Land ohne Utopien. Wenn er später wiederkommt, halb Zombie, halb abgerissener Tramp, hat auch er nicht mal mehr die Kraft zum Wünschen. Die Figur des Architekten erlebt übrigens gerade eine eigene Karriere in Nachwendezeitstücken.

Das alles spielt auf einer kargen Bühne mit einem weißen Bungalow, der ab und an zur Projektionsfläche für Bilder vom Abriss wird. Der Osten wird entvölkert, dem Leben die Basis entzogen. Ja gewiss, schrumpfende Städte, das ist ein wichtiges Thema, mit dem Fritz Kater, wie Petras sich als Dichter nennt, die Geschichten seiner früheren Stücke fortsetzt. Allein so lebendig, wie ihm die Suche nach Identität und Heimat in Erinnerung und Neuaufbrüchen in „Zeit zu lieben, Zeit zu sterben“ oder „Sterne über Mansfeld“ gelang, ist „Heaven“ nicht geraten. Dennoch erfuhr die Inszenierung, die in Frankfurt am Main uraufgeführt wurde, dort viel Lob für die ausgefeilten Figuren und das Nachdenken über Geschichte.

Allein dieses Denken bleibt zu sehr ein bemühtes Denkenwollen. Immer wieder führen die projizierten Bilder ins Universum und zu den Sternen und auch über der Bühne flimmern die Dioden. Fritz Kater hat in seinen Text viele Momente eingestreut, in denen der Geist der Figuren aus dem Nichts ihres Alltags abzuheben versucht und den Himmel stürmt. Helga und Königsforst erzählen sich die Geschichten von Marietta Blau, einer österreichischen Physikerin, und Victor Hess, einem österreichischen Physiker, die in den 30er-Jahren wichtige Entdeckungen machten. Die beiden aus Wolfen spiegeln sich in diesen vergangenen Biografien, nicht nur, weil Marietta Blau eine der Erfindungen machte, die für Wolfen und die Filmindustrie entscheidend waren. Da ist noch mehr: Musste nicht auch Marietta ihre Heimat verlassen, als Jüdin von den Nationalsozialisten verfolgt? Und wurde sie dann nicht noch einmal verraten, von ihrem Freund Hess, weil der sich für eine 20 Jahre jüngere Frau interessierte? Letztlich die banalste Art des Verlassenwerdens und schließlich auch die Wendung, die die Geschichte von Helga und Königsforst nimmt, nachdem die beiden nun doch nicht zusammen gestorben sind.

Alle sehnen sich hier danach, sich als Teil eines größeren Zusammenhangs begreifen zu können. Das Stück möchte seinen Figuren diesen Trost ja durchaus geben. Allein der Griff nach dem Großen, das Heranziehen anderer, historischer Horizonte, die das eigene Unglück relativieren, oder auch die Anspielung auf den Tristan-Mythos schon im Titel, bleibt wie ein angeklebter Versuch. Das ist eine Textcollage, die nur Behauptung bleibt.

„Die Welt muss romantisiert werden: So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung“, wird Novalis im Programmheft zitiert. Wahrscheinlich, weil Petras gern versuchen würde, mit dieser Strategie in doppeltem Sinne wieder Land zu gewinnen. Zum einen, in dem er seinen Figuren dies als Rettungsanker zuwirft: er lässt sie anreden in weiten Denklinien gegen die Gefahr, auch geistig zurückzuschrumpfen auf den Fleck, an den der physische Körper gebannt ist. Und Petras will auch dem Stück selbst diese Aufbruchslinien offen halten: Aber er bleibt damit zu sehr an der Oberfläche.

Wieder im Gorki am 21. November, 20. Dezember