Wild Bill Hickoks letztes Gefecht

SCHLAMM Die letzten Tage der Landnahme des Westens: der grandiose Spätwestern „Deadwood“ von Pete Dexter

Kollektive in existenziellen Grenzsituationen, das reizt Dexter

VON FRANK SCHÄFER

Spätestens seit Thomas Bergers Film „Little Big Man“ (1964) kommt im Kino kaum noch ein Western ohne parodistisches oder metareflexives Augenzwinkern aus. Von „Lassiter“ mal abgesehen. Insofern sprengt Pete Dexters Roman „Deadwood“ nicht wirklich die Konventionen. Aber wer das Buch nun als wenig originelle literarische Adaption des Anti- bzw. Spätwesterns abzutun versucht, sollte immerhin wissen, dass es im Original bereits 1986 erschienen ist; da waren die spektakulären Genre-Dekonstruktionen, Clint Eastwoods „Unforgiven“ und Jim Jarmuschs „Dead Man“, auch noch nicht abgedreht.

„Deadwood“ bezieht enorme Komik aus der forcierten Überzeichnung der Genre-Stereotype. Da läuft ein monströser Fiesling mit dem abgeschnittenen Kopf eines anderen gesuchten Schurken seitenlang durch das titelgebende Goldgräberkaff Deadwood, um dessen Einwohner von seiner Verruchtheit und Härte zu überzeugen, aber keiner nimmt wirklich Notiz davon, nicht mal die Damenwelt. „Boone wusste nicht, woran es lag, aber gesellschaftlich betrachtet war Frank Towels’ Kopf ein Reinfall.“ Nicht mal der Sheriff will ihm die auf diesen „Kopf“ ausgesetzte Belohnung von 200 Dollar bezahlen, weil er zuvor bereits 250 für einen massakrierten Indianer gelöhnt hat.

Rothäute sind also, zumindest tot, einiges mehr wert im wahrhaftig immer noch wilden Westen des Jahres 1876. Neben solchen offen parodistischen Elementen ist es vor allem der Kontrast der erwarteten Heldenmythen mit der historischen Wirklichkeit, der immer wieder komische Effekte zeitigt. Nur selten hat man so viel über die Probleme eines syphilitischen Revolverhelden beim Wasserlassen gelesen wie in diesem Roman.

Dexter erzählt die Geschichte des großen Wild Bill Hickok, der mit seinem „Partner“ Colorado Charley Utter gewissermaßen ins schicksalhafte letzte Gefecht reitet, das sich dann aber eher als eine Art verlängertes Siechtum ausnimmt. Bereits der Name ihres Zielortes ist kein gutes Omen. Und die Vorzeichen häufen sich. „Sie hatten am frühen Nachmittag angehalten in Sichtweite der Hills. An jenem Tag, in jenem Licht sahen die Hills so schwarz aus wie in den dunkelsten Träumen. Wenn man hineinritt, dachte Charley, sah man vielleicht nie wieder das Tageslicht.“ Und was dann passiert, trägt wirklich Züge eines düsteren Fiebertraums.

Dexter beschreibt die letzten Tagen der Landnahme des Westens, also jenen historischen Ort, an dem die abendländische Zivilisation einmal mehr in ein archaisches Vorstadium zurückfällt, bevor sie sich mit dem flächendeckenden Bau der Eisenbahnlinien und Telegrafenleitungen wieder konsolidiert. Deadwood ist provisorisch, man haust vornehmlich in Zelten und windschiefen Bretterbuden, die hygienischen Bedingungen sind zum Weglaufen und das Gesetz existiert nur auf dem Papier. Dass Menschen hier eines natürlichen Todes sterben, ist eher unnatürlich. Entsprechend schwarz sieht es in ihren Köpfen aus. Rassismus, Chauvinismus, Patriarchalismus sind die letzten Residuen eines zerfallenden bürgerlichen Wertekanons. Nicht einmal die gute alte Frömmelei hat hier noch Bestand. Der hiesige Prediger Smith schreibt sogar an einer eigenen „Bibel der Black Hills“. Tenor: Es gibt „keinen Unterschied zwischen Gott und dem Teufel. Sie waren ein und derselbe.“

Dexter lässt ein ansehnliches Figurenarsenal durch den allgegenwärtigen Schlamm waten, um die gesellschaftliche Degeneration aus möglichst vielen Perspektiven zu beleuchten. Hier zeigt sich denn auch der Zusammenhang zu seinen anderen großen Romanen, etwa „Paris Trout“ oder „God’s Pocket“, in denen er das Krimi-Genre als Vehikel nutzt, um soziale Schwundstufen, Kollektive in existenziellen Grenzsituationen zu studieren.

Dass die Handlungsstruktur dadurch etwas weitmaschiger gerät, wird nur die Lassiter-Fraktion ärgern. Die anderen hält Dexter bei der Stange mit hartgekocht-lakonischem Dialogwitz, mit einem den umfangreichen Erzählstoff immer auf Spannung haltenden Schnitt, der den erfolgreichen Drehbuchschreiber verrät, und historisch verbürgten Figuren, wie der komischen Heiligen Calamity Jane Cannary oder dem heimlichen Helden Charley Utter, dem besten Freund, den man sich wünschen kann. Ihnen hat Pete Dexter wirklich Leben eingehaucht.

Pete Dexter: „Deadwood“. Aus dem Englischen von J. Bürger und K. Bielefeldt. Liebeskind, München 2011, 447 Seiten, 22 Euro