KONFLIKTSCHEU
: Ey, du Spast

Ich denke an ihre furchteinflößenden Acrylnägel

Ich bin ein schrecklich konfliktscheuer Mensch. Wenn mich früher meine große Schwester verhauen wollte, bin ich ihr in die Arme gesprungen und habe sie geknuddelt.

Dieses Knuddelkind bin ich geblieben. Wenn ich abends pöbelnden Jugendlichen auf der Straße begegne, werde ich nervös, weil ich vergesse, dass ich kein pausbäckiger Grundschüler mehr bin, der möglichst unauffällig an den bösen Jungs vorbeischleicht. Deshalb stelle ich mich auch ignorant, als sich hinter mir in der U-Bahn ein junges Paar anzetert. „Ey, was willst du überhaupt, du Spast.“ Ich drehe den MP3-Player etwas lauter. „Fick dich doch, du Fotze.“ Ich schließe die Augen. Döse. Halte Winterschlaf. Bin tot. Oder so.

Dann ein dumpfer Aufprall. Schmerzensschreie. Hysterie. Scheiße, jetzt muss ich doch aufwachen und gucken, was los ist. Eine harte Gerade ins Gesicht, eine blutende Nase, eine Wunde über dem Auge. Ein dickes Mädchen prügelt auf ein hageres Bürschchen ein.

Ach so ist das. Die Tracht hat er sich wohl verdient. Natürlich wäre es angebracht, dem eindeutig schwächeren Geschlecht zu helfen. Aber ich tue rein gar nichts. Ich bin zwar drei Köpfe größer als das pummelige Prollmädchen und etwa doppelt so alt. Doch ich denke an ihre gefährlich spitzhackigen weißen Boots und die furchteinflößenden Acrylnägel. Der blutende Prügelknabe sieht mich an. Wir gucken beide ähnlich beschämt. Die Bahn hält an, die zwei steigen aus, das Mädchen schleift den Jungen hinter sich her.

Da konnte ich doch unmöglich dazwischengehen. Ich würde einem Mädchen gegenüber niemals handgreiflich werden. Aber wenn die Rollen vertauscht gewesen wären, wenn er sie geschlagen hätte. Dann hätte ich diesem Kerl Beine gemacht. Aber wie. Und das arme Mädchen schützend in die Arme geschlossen. Ganz bestimmt.

PHILIPP BRANDSTÄDTER