Erkenntnisgewinn bar jeder Struktur

DEBATTE Beim BarCamp in Kreuzberg diskutieren 120 junge Deutsche und Franzosen ganz hierarchiefrei über Glück und Wohlstand

■ BarCamps sind eine junge Veranstaltungsform. Die Themen werden vor Ort entwickelt, viel passiert online. Feste Beschlüsse sind kein Muss. Das erste BarCamp fand im Jahr 2005 in Kalifornien statt, seit 2006 ist das Format auch in Deutschland im Kommen.

■ Zum Abschluss des DFJW-BarCamps dürfen am heutigen Montag Bundesfamilienministerin Kristina Schröder und ihr Amtskollege Luc Chatel mitdiskutieren.

VON KAREN GRASS

Was ist das eigentlich: Wohlstand und Glück? Und wie kommt man da heutzutage ran? Die 120 Franzosen und Deutschen, die am Sonntagvormittag in der großen Halle des Umspannwerks Kreuzberg sitzen, wissen auch keine Antwort. Aber an Ideen mangelt es den 18- bis 35-Jährigen nicht. Um die loszuwerden, sind sie zum ersten BarCamp des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) gekommen.

Bastian Geiken hat ein sehr persönliches Anliegen: Während eines Freiwilligen Sozialen Jahrs auf einem Biohof in Frankreich hat der Freiburger Student erfahren, wie Glück ohne materiellen Bezug aussieht. „Meine Eltern hätten aber lieber gesehen, dass ich eine Ausbildung mache“, sagt der 24-Jährige. Mit den anderen möchte er nun über den Zwiespalt zwischen bereichernder persönlicher Entfaltung und finanzieller Sicherheit diskutieren, in dem er auch einen Generationenkonflikt sieht. „Das Thema beschäftigt mich seit Jahren. Hier kann ich es ohne Aufsicht und Benotung zur Diskussion stellen“, sagt Geiken. Präsentiert hat er es schon im Vorfeld, online. Diese Vorarbeit wird mit viel Zustimmung belohnt.

Genau darum geht es bei der aus Silicon Valley stammenden Veranstaltungsform: um den freien Wettstreit der Themen und die Vernetzung der BarCamp-Teilnehmer – vor, während und nach dem Treffen. Parallel zu den Debatten tippen alle am Laptop ihre Gedanken in „EtherPads“ – Themenseiten, auf die jeder zugreifen kann. Und zwischen den sechs Workshopräumen, auf die sich die BarCamper nach dem Plenum aufteilen, wird eifrig getwittert: „Die junge Dame macht gleich eine schöne Session zum Thema Medien“, kündigt da etwa einer an.

Auf feste Strukturen verzichtet das BarCamp des DFJW fast vollständig. Die 15 Sessions werden vor Ort festgelegt, es gibt keine festen Rollen wie Moderatoren. „Die jungen Erwachsenen sollen nicht nur konsumieren, sondern sich aktiv austauschen“, erklärt die Pressefrau des DFJW, Florence Batonnier. „Wir haben uns für ein BarCamp entschieden, weil wir glauben, dass diese Form neue, unverbrauchte Netzwerke entstehen lässt.“

„Am Ende steht auf jeden Fall ein Netzwerk interessanter Leute“

BARCAMPER MARCEL ACKERMANN

Seit 2005 veranstaltete das Werk, das den Regierungen beider Nationen als Kompetenzzentrum zum kulturellen Austausch dient, große Jugendparlamente. Auch 2010 bekam es wieder den Auftrag, ein solches Treffen für 2011 zu organisieren. Nach den Parlamenten gab es aber oft Frust, weil sich die Beschlüsse mangels Finanzierung nicht umsetzen ließen. Auch deswegen habe man sich diesmal gegen die festen Kongressstrukturen entschieden, gibt Batonnier zu.

Die brauchen die jungen Franzosen und Deutschen auch gar nicht. „Wir können alles machen, reisen, studieren“, sagt eine junge Französin, die mit etwa 40 Mitstreitern bei Bastian Geikens Session sitzt. „Ja, aber wir haben auch weniger Perspektiven auf einen festen und gesicherten Job als unsere Eltern“, wirft ein anderer ein. Dann geht die ungelenkte Diskussion nahtlos auf die Finanzkrise und dem Umgang mit Jugendarbeitslosigkeit in beiden Ländern über.

„Hier geht es nicht um richtig oder falsch“, glaubt Marcel Ackermann. Der BarCamp-Profi, der schon sieben solcher Treffen mitgemacht hat, initiiert heute die experimentelle Session „Anleitung zum Unglücklichsein“. Was am Ende von alledem bleibt? „Auf meinem ersten BarCamp hatte ich einen besonders hartnäckigen Widersacher, der mir Paroli bot und die Diskussion echt voran brachte“, erzählt Ackermann. Heute sind die beiden Informatikstudenten Freunde, tauschen sich regelmäßig aus. Das Fazit des Darmstädters: „Am Ende steht auf jeden Fall ein Erkenntnisgewinn – und ein Netzwerk interessanter Leute.“