Mein Freund Platon

Er war einer der ganz Großen in der Hamburger Politik, nicht nur bei den Grünen. Obwohl Martin Schmidt nie Staatsrat oder Senator war, sondern nur ein paar Jahre stellvertretender Fraktionsvorsitzender der GAL in der Bürgerschaft, hat er das politische Geschehen in Hamburg mehr als zwei Jahrzehnte lang maßgeblich mitbestimmt. Am heutigen Mittwoch wird der am 19. November Verstorbene auf dem Blankeneser Friedhof beigesetzt.

Martin Schmidt, sagen manche, hatte einen unbeirrbaren Kompass, andere nannten ihn einen unverbesserlichen Sturkopf. Richtig ist sicher, dass er die Debatte für die Grundlage allen Handelns hielt, und richtig ist auch, dass er gerade deswegen eben nicht beratungsresistent war. Aber dass er sehr oft die besseren Argumente hatte, war ja nicht sein Problem.

Martin Schmidt war 1981 Mitbegründer der damals fundamentaloppositionellen GAL, und maßgeblich er brachte sie 16 Jahre später auf die rot-grüne Senatsbank. Seine Auffassung war, dass eine Partei nicht zum Selbstzweck politisieren dürfe, sondern gefälligst für das Gemeinwohl zu arbeiten habe. Und wenn ihn ein Fundi als Realo beschimpfte, pflegte Martin Schmidt ihm zu dieser Erkenntnis schmunzelnd zu gratulieren.

So war er maßgeblich an allen Parlamentsreformen der 1990er Jahre beteiligt, er gilt als Vater der Volksgesetzgebung in Hamburg ebenso wie als Erfinder des zwölfeckigen Fahrradhäuschens, das vor den Mietshäusern der Innenstadtquartiere seit Langem zum Straßenbild gehört, und die Stadtbahn hatte er schon vor zehn Jahren ebenfalls bis zur Spruchreife gebracht – dass die rot-grünen Planungen von der danach regierenden Autofahrerkoalition aus CDU, FDP und Schill-Partei gestoppt wurden, hat Martin Schmidt lange erbost. Wenn er etwas partout nicht ausstehen konnte, dann Ignoranz.

Eben deshalb scheute Martin Schmidt keinen Konflikt. In der Bürgerschaft sezierte er am 30. Mai 2001 vor vollem Haus und prall gefüllter Pressebank in einer denkwürdigen Rede „die Rufmordkampagne“, wie er sie nannte, von Springer-Presse und Mopo am kurz zuvor gestürzten SPD-Innensenator Hartmuth Wrocklage und entkleidete deren Pro-Kampagne für den gnadenlosen Richter Ronald Schill auf ihren populistischen Kern. Dass nämliche Blätter ihm das sehr lange sehr übel nahmen, war dem promovierten Altphilologen mit einem süffisanten Lächeln ein Aristoteles-Zitat wert: „Plato amicus, veritas amicior“ („Platon ist mein Freund, aber mit der Wahrheit bin ich noch mehr befreundet“).

Seine Wahrheitsliebe hat ihm in den wilden 60er Jahren – damals war er Asta-Vorsitzender an der Freien Universität Berlin und Vorsitzender des Republikanischen Clubs, der Denkfabrik der APO – vermutlich die Uni-Karriere vermasselt. Professor konnte der zeitweise von Berufsverbot bedrohte Schmidt nie werden. Als Dozent an der Uni Hamburg indes verfasste er mehr als 600 Beiträge für das „Lexikon des frühgriechischen Epos“.

Martin Schmidt war der Vordenker der GAL, er war der Taktgeber. Er war derjenige, der anspornte, und er war es, der zur Mäßigung riet. Er wusste die Balance zu halten. So wurde er das, was man eine graue Eminenz nennt. Die letzten Jahre nach seinem Abschied aus der Bürgerschaft 2001 war Martin Schmidt Pensionär, betrieb Geschichtsforschung im „Verein zur Erforschung der Geschichte der Juden in Blankenese“ und ließ den Grünen dann und wann mahnende Worte zukommen, so lange seine Gesundheit ihm das erlaubte. Er starb vier Tage vor seinem 78. Geburtstag. SVEN-MICHAEL VEIT