Meine Geschichte vom Meer

235 maritime Kurzgeschichten hat der mare-taz-Literaturwettbewerb erbracht. Die taz druckt die ersten fünf Plätze ab. Heute: Platz zwei, eine Unterwassergeschichte von Amélie Maas

Der literarische Countdown läuft, heute sind wir mit unseren Poetae Laureati schon auf Platz zwei angekommen: Amélie Maas aus Münster hat den silbernen Lorbeer des maritimen Kurzgeschichtenwettbewerbs errungen, den die taz nord gemeinsam mir dem Magazin mare veranstaltet hat. Dass die erfolgreiche Autorin erst 15 Jahre alt ist, hat uns zwar beeindruckt, aber nicht beeinflusst – der Erstplatzierte, dessen sonstige Identität bis zum Abdruck seines Textes kommenden Samstag in der taz und zeitgleich in der Dezember-Ausgabe von mare selbstverständlich streng geheim gehalten wird, ist zwar auch nicht viel älter. Trotzdem verfiel die Jury keineswegs dem Jugendwahn, sondern, im Fall von Amélie Maas, dem straighten, schnörkellosen Durcherzählen der Geschichte bis zum letzten Luftbläschen. Die fünf erstplatzierten Texte des Wettbewerbs werden kommenden Sonntag (2. 12., 19 Uhr) auf dem Feuerschiff im City Sporthafen Hamburg von Katja Danowski vom Deutschen Schauspielhaus gelesen, dazu singen SängerInnen des GrooveChors. Der Eintritt ist frei. Kommen Sie! DIE JURY

Ich spüre die harte, kalte Wand hinter mir. Ich presse mich an sie, um noch ein paar Sekunden vor dem Wasser fliehen zu können, das hart gegen die Tür schlägt und in immer größer werdenden Lachen durch alle Ritzen dringt und den Boden erschließt, bevor ich die nasse Kälte an meinen nackten Füßen spüre. In nur wenigen Sekunden ist der gesamte Boden von Wasser überspült. Eine Gänsehaut überzieht meinen Körper, kriecht mir die Beine rauf, den Rücken hoch, in den Nacken und greift sich meinen Kopf. Als ich die kalten Wellen schon an meinen Knöcheln fühle, folgt der Gänsehaut die plötzlich Angst, die schon lange hätte da sein sollen, nur, dass sie den Weg direkt durch meinen Körper, durchs Herz bis ins Gehirn wählt, anstatt sich über die Haut zu winden. ‚Ich werde sterben. Ich werde jämmerlich ertrinken.‘ Das sind die Gedanken, die mir durch den Kopf gehen. Meine Schritte platschen als ich zur Tür renne, um mich zum hundertsten Mal gegen sie zu werfen. Vergebens. Ich rüttele an der Klinke, schlag auf sie ein. Die Angst schlägt in Panik um, zieht sich um Herz und Lunge, wie eine Würgeschlange, die sich langsam um ihr Opfer wickelt und ihm die Luft abquetscht. Ich weiß, dass es vergebens ist, aber ich schreie verzweifelt nach jemandem, der mir hilft, während ich meine Finger durch das winzige Gitterfenster strecke, doch alles was ich höre, sind die hilflosen Schreie der anderen, die wie Echos meiner Hilferufe klingen. ,Wer denkt schon an die paar Kleinverbrecher unten in den Zellen, wenn das Schiff untergeht?‘

Die Angst in den hallenden Stimmen tut fast noch mehr weh als die eigene. Ich schließe die Augen und bedauere, dass ich die Ohren nicht auch einfach verschließen kann. Ich presse meine Hände auf sie, was die kläglichen Geräusche nicht davon abhält alles noch schlimmer zu machen. Wirbeln die Stimmen in meinem Kopf herum, oder kommen sie von außen? Ich weiß es nicht.

Die hysterischen Schluchzer erschrecken mich, als sie aus meiner Kehle dringen. Die heißen Tränen, die über meine eisigen Wangen rinnen, hinterlassen eine wohlige Wärme, die ganz falsch zu sein scheint. Es tut weh, als ich mich erneut gegen die solide Eisentür schmettre, bevor ich, meinem Wimmern ergeben, in mich zusammensacke und unten wie gelähmt sitzen bleibe. Ich kaure mich fest in die Ecke zwischen Schrank und Tür. Ich spüre das Zittern meiner Glieder, spüre meine Zähne hart aufeinanderschlagen. Ich presse die Lippen zusammen. Das Wasser steigt immer weiter, erklimmt meine Hüfte, Arme, streckt die feuchten Finger nach meiner Kleidung aus und zieht sie nach unten. Mein Zittern wird immer stärker. Ich schlinge meine Arme fester um den Körper und erwarte das bisschen Wärme, das ich dabei früher immer verspürt habe, wenn ich mich im Winter mit meiner Schwester dicht an dicht gekauert auf dem Dachboden versteckt habe. Meine Schwester ist aber nicht da, und auch die Wärme bleibt aus. Ich balle meine Hände zu Fäusten und spüre nichts. Meine Fingernägel graben sich unbemerkt in die Haut. Die Kälte hat alles betäubt. Mein Verstand ist genauso taub wie der Rest meines Körpers. Meine Hände schmerzen, als ich sie mühsam öffne. Ich starre sie an. Sie sind weiß, blau und steif. Gekrümmt, wie sie es im Alter wahrscheinlich gewesen wären.

Erst als mir das kalte, trübe Wasser in meinen aufgerissenen Mund läuft, richte ich mich auf. „Nein“, höre ich mich flüstern. Meine Stirn verzieht sich, dann folgt ein Schrei. Er kommt tief aus meinem Bauch und erfüllt den ganzen Raum. Ich hämmere blind gegen die Wand, immer noch schreiend. Der Schrei ebbt in einem jämmerlichen Quieken ab. Unter meinen Handflächen, mit denen ich mich gegen die Wand stütze, nehme ich das Zittern der Wände wahr, das durch die ständigen Erschütterungen des Schiffes hervorgerufen wird. Ich will nicht mehr kämpfen, sondern, dass es vorbei ist. Ich weiß, dass ich sterben muss, wieso also alles noch so lange hinauszögern und warten? Das Wasser umspielt meinen Bauch und ich lasse mich fallen. Das Wassers verschlingt mich und die Kälte beißt in meinen Kopf. Ein Stechen zuckt durch meine Schläfen. Es ist schwer unter Wasser zu bleiben. Mein Brustkorb zieht sich zusammen. Blasen, zuerst dicke, große, dann immer weniger und kleinere dringen aus meinem Mund. Mein Körper lechzt nach Sauerstoff und es fällt mir schwer, ihm den zu verweigern. Um nicht wieder aufzutauchen rudere ich mit den Armen. Als mir schlecht wird, gebe ich dem Drang nach, Luft zu holen. Meine Lunge fühlt sich an, als würde sie zerreißen, als sie sich mit der modrigen Restluft füllt. Wegen der Anstrengung, mich durch Paddeln über Wasser zu halten, fällt mir das Atmen schwer. Noch ein paar Minuten, dann ist es vorbei. Wie es wohl sein wird? Ich habe mir immer gewünscht, ruhig einzuschlafen, wenn ich keine Lust mehr habe, wie wahrscheinlich jeder. Daraus wird nichts mehr, wie bei wahrscheinlich jedem.

Ich weiß, dass es vergebens ist, aber ich schreie verzweifelt nach jemandem, der mir hilft, während ich meine Finger durch das winzige Gitterfenster strecke

Mein Kopf berührt die Decke. Ich lege ihn schief, um noch meine letzten Atemzüge zu machen. Meine Lippen berühren die Decke. Hektisch atme ich. Ein und aus. Ich kneife die Augen zusammen und versuche das wieder aufkommende Schluchzen zu unterdrücken. Ich ziehe das letzte Mal Luft durch meine Nase, bis tief in die Lunge, dann schmecke ich das salzige Wasser und alle meine Atemwege sind verschlossen. Erst komme ich gut mit der Luft aus, doch dann wird mein Brustkorb wieder zusammengedrückt. Wieder werden die Blasen kleiner, die aus meinem Mund aufsteigen und wieder überkommt mich ein Gefühl der Übelkeit. Ich würge und verschlucke mich am Wasser. Immer mehr Wasser gerät in meine Lungen. Der spärliche Inhalt meines Magens vermischt sich mit dem salzigen Wasser. Mir wird schwindelig. Ich brauche Sauerstoff, jede meiner Zellen schreit förmlich danach, aber der Sauerstoff wurde nun endgültig vom Wasser verdrängt. So wie ich langsam ins Schwarze gezogen werde, fühle ich das Schiff nun, nach einer langen Pause, mit starken Rucken wieder sinken. Meine Fingernägel kratzen über die Decke, als ich an die Wand gepresst werde, unfähig, etwas zu tun. Das durchs Wasser gedämpfte Kratzen, lautes Poltern von irgendwo, das Gurgeln ertrinkender Menschen, das ist das Letzte, was ich höre, bevor mich die Ohnmacht mit sich zieht. Es geht mir dreckig, aber es ist erholsam. Es ist, als würde ich einschlafen. Ich fühle, wie mein Körper erschlafft, auch wenn ich nichts mehr sehen kann, spüre, wie mein Herz immer langsamer und schwächer schlägt, bis das Pulsieren in meiner Brust schließlich ganz aufhört. Das Blut bleibt stehen, das Gehirn schaltet endlich auch seine primitivsten Funktionen aus. Das Gefühl ist wie vorhin, als ich noch mal auftauchen konnte um nach Luft zu ringen, etwas unangenehm und doch unendlich befreiend. Das Wasser um mich herum scheint zu Watte zu werden und dann langsam zu verschwinden. Dann ist es vorbei.