Ab ins Gehölz

Wenn Dichtung und Literaturwissenschaft zum absurden Theater werden: Am Donnerstagabend stellten sieben junge Lyriker in der Literaturwerkstatt ihre Versionen älterer Gedichte vor

VON ANDREAS RESCH

Für eine Lyrikveranstaltung mitten in der Woche war die Literaturwerkstatt in der Kulturbrauerei am Donnerstagabend erstaunlich gut gefüllt. Unter dem Motto „Quellenkunde“ hatten sich sieben Dichter eingefunden, um Texte vorzutragen, die von der Lyrik Hölderlins, Droste-Hülshoffs, Rilkes oder Trakls inspiriert waren.

Die Idee stammt vom Dichter und Lyrikherausgeber Norbert Hummelt. Im vorigen Jahr hatte er knapp fünfzig Autoren eingeladen, sich auf den Spuren älterer Gedichte zu bewegen, diese neu- oder umzudichten, zu parodieren, zu übersetzen. Aus den Resultaten stellte er eine Anthologie zusammen. Älter meint dabei, dass die Vorlagen aus Copyrightgründen von spätestens 1936 verstorbenen Schriftstellern stammen mussten.

Hummelts Projekt ist gleichermaßen absurd wie originell: Zwar ist ein Zwiegespräch mit einem lange verstorbenen Autor durchaus nichts Ungewöhnliches, zumeist aber verläuft es auf einer wesentlich subtileren, privateren Ebene. Man durfte also gespannt sein, welche Richtung die jungen Lyriker – die 1968 geborene Marion Picker war die Älteste, die 25-jährige Mara Genschel die Jüngste – einschlagen würden.

Den Anfang machte der Dresdner Christian Lehnert, der sich den Versen des Kirchenlieddichters Paul Gerhardt auf einer eher formal-rhythmischen Ebene annäherte, während er sich inhaltlich von persönlichen Erlebnissen, zumeist Reisen, inspirieren ließ. Als er schwarz gekleidet und mit getragener Stimme aus seinen Texten las, erinnerte er ein wenig an einen evangelischen Pastor, der zu seiner Gemeinde spricht: „Mein Blick reicht bis zum jähen Fall / in ihre Augen, Ringe: / etwas versinkt. Ein Widerhall / des ersten Schreis, ich schwinge.“ Das Publikum in der Kulturbrauerei lauschte andächtig.

Überzeugen konnte Nadja Küchenmeisters „Staub“, eines der wenigen Gedichte, das auch ohne Kenntnis einer Vorlage bestens funktionierte: „der saum der gardine, der am boden schleift. ein lichtstrahl, / der mein auge trifft. fiebergefühle. das holz knackt leise, / nur eine wespe, die ans fenster schlägt.“ Lustigerweise war gerade dieser Text erst im Nachhinein durch das Einfügen einiger Wörter mit einem Rilkegedicht in Zusammenhang gebracht worden, weil die Autorin, wie sie freimütig zugab, mit ihrer ursprünglichen Nachdichtung so unzufrieden gewesen war.

Auffällig war der beinahe schon sakrale Ernst, mit dem viele Dichter an ihren Auftrag herangingen. Als der Leipziger Norbert Lange seine Neuübersetzung der Merseburger Zaubersprüche vortrug – jener Verse also, die zu den ältesten überlieferten deutschen Texten überhaupt zählen – war das natürlich irgendwie symbolträchtig, gleichzeitig aber auch ziemlich öde und weckte zudem grausige Erinnerungen an quälende „Althochdeutsch“-Proseminare im Germanistikstudium: „Fol und Wodan ritten ins Gehölz / Da war Balders Fohlen der Fuß verrenkt“.

Trotz der poetischen Schwere, von der viele Auftritte geprägt waren, gab es auch einige lustige Momente. Etwa als Marion Picker die Hölderlinverse „Am Feigenbaum ist mein / Achilles mir gestorben“ proklamierte und plötzlich ein Hund durchs gekippte Fenster jaulend die zweite Stimme intonierte. Die Autorin ertrug es mit stoischer Ruhe. Auch als kurz nach Verstummen des Hundes ein Baby im Saal zu weinen begann, verzog sie keine Miene.

Zur Diskussionsrunde verließen viele Besucher fluchtartig den Saal und verpassten deshalb Norbert Hummelts wundervoll absurde Fragen an die Autoren. Etwa die an Marion Picker, ob sie „die Quelle Hölderlin als Weg sehe, immer weniger zu sagen“, was diese performativ mit ausgedehntem Schweigen beantwortete. Anschließend erwähnte sie Brechts „Vorliebe für das Chinesische“, die aber, ohne nähere Erläuterungen, auch nicht mehr als ein pittoreskes Bild blieb. Auch Norbert Langes ausufernde Ausführungen über die „zwei Formen des Gemäldegedichts“, sehr speziell und kaum zu verfolgen, gehörten zweifellos zu den Highlights der Veranstaltung.

Wenn es an diesem Abend so etwas wie Gewinner zu küren gab, so waren dies mit Sicherheit die „klassischen“ Texte. Man bekam tatsächlich Lust, mal wieder Droste-Hülshoff oder Trakl zu lesen. Was völlig fehlte, waren die angekündigten Parodien. War es übertriebene Hochachtung vor den großen Namen der Vergangenheit? Vielleicht. Dabei sind es doch gerade die Respektlosigkeiten eines Robert Gernhardt oder Ernst Jandl, welche die Wahrnehmung schärfen und junge Autoren davor bewahren können, in allzu seichte Gefilde abzudriften oder sich den falschen Dichter zum Vorbild zu nehmen. Vorsorglich schließen wir deshalb mit einigen Versen aus „Oktober mit Eduard Mörike“, einem herrlich-grässlichen Gedicht von Helmut Heißenbüttel: „Der Schleier welcher fällt / herbstkräftigt diese Welt / Verlust und nicht Verlust / sind mir und nicht bewusst.“