Europa verstanden

SACHBUCH Philipp Thers Buch „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ ist eine Mischung aus Reportage und Analyse: über Europa seit 1989

Seine leicht geschriebene Analyse ist eine vorläufige Bilanz der neoliberalen Reformen

Abgesehen davon, dass keine einzige Autorin in der Kategorie Sachbuch nominiert war, gab es in diesem Jahr wenig bis nichts zu mäkeln an der Liste der nominierten Bücher.

Tatsächlich jedes der fünf Bücher hat ein Alleinstellungsmerkmal. Bei Philipp Thers Buch „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ (Suhrkamp) aus dem letzten Herbst, dem der 11. Preis der Leipziger Buchmesse zugesprochen wurde, ist das die explizit gesamteuropäische Perspektive auf die Umbrüche seit 1989. Die Jury lobte das Buch des Wiener Professors für Osteuropäische Geschichte als ein Geschichtsbuch, das jeder, der die jüngsten Konflikte in Europa verstehen will, lesen sollte. Einen Teil seines Preisgeldes will Ther Freunden in Lemberg spenden, die Ostukrainer bei sich aufgenommen haben.

Das Buch ist eine Mischung aus Reportage und Analyse. Ther zeigt, wovon die abstrakte Rede von Reformen und Umbrüche tatsächlich handelt. Zum Beispiel von sogenannten Eurowaisen, Kindern in Polen, deren Eltern zu Arbeitsmigranten im Westen wurden. Ther, der in Tschechien, Polen und der Ukraine gelebt hat, geht es auch um die Frage der „Selbst-Transformation“ der Leute, die, wie er betont, nicht nur Anpassung, sondern auch Widerstand beinhaltet.

Seine leicht geschriebene Analyse ist eine vorläufige Bilanz der neoliberalen Reformen. Nicht die Fundamentalkritik am Neoliberalismus ist Thers Sache, sondern dessen Anwendung und die konkreten sozialen Folgen. Darin erweisen sich die sogenannten Reformländer des Ostens als Experimentierfeld neoliberaler Politik. Ther spannt den Bogen bis in die unmittelbare Gegenwart und kann nachweisen: „Seit der 2010 ausgebrochenen Eurokrise gibt es einen neuen und gewollten Zusammenhang zwischen dem Osten und dem Süden Europas. Die Griechenland, Italien, Spanien und Portugal verordneten Reformen weisen Ähnlichkeiten mit den neoliberalen Einschnitten im postkommunistischen Europa auf.“

Diese gesamteuropäischen Zusammenhänge herauszuarbeiten, ohne in Ideologiekritik zu verharren, ist ein großes Verdienst des Buches. 2011 erschien von Philipp Ther „Die dunkle Seite der Nationalstaaten. Ethnische Säuberungen im modernen Europa“. Ein viel gelobtes Buch, um das sich die lustige Geschichte eines gescheiterten Verhinderungsversuchs seitens der ehemaligen Präsidentin des Bundes der Vertriebenen Erika Steinbach rankt. Ther hatte den Vertriebenenverbände vorgeworfen, auch noch nach 1990 in der Ostpolitik den Kalten Krieg fortgeführt zu haben. Steinbach versuchte daraufhin 2008 den Verlag von seinem Publikationsvorhaben abzubringen. Thers Verhältnis zum Bund der Vertriebenen sei gestört, so Steinbach damals. Ein Lehrstück in Sachen autoritärer Charakter. Auch rein habituell, so der Eindruck, dürfte das nicht Thers Sache sein.

TANIA MARTINI