Die Gunst der Wasserkunst

Auf der Hamburger Elbinsel Kaltehofe geht es zwischen Natur und Mensch hin und her. Nun ist der Mensch wieder in der Offensive: Teile der mehr als hundert Jahre alten, überwucherten Wasserfiltrationsanlage werden für die Freizeitnutzung geöffnet. Alte Aktivisten schaudert es bei der Vorstellung

VON JAN KAHLCKE

Es klingt nach dem alten Konflikt zwischen Natur und Zivilisation, aber in diesem Fall verschwimmt manchmal ein bisschen, wo das eine beginnt und das andere endet. Von der „kommenden Top-Adresse im Südosten“ in Sachen Naherholung ließ Hamburgs Umweltsenator Axel Gedaschko (CDU) in diesen Vorwahlkampftagen tönen. Wo das sein soll? Nun, Südosten ist schon fast eine Übertreibung. Mit dem Rad gerade mal eine Viertelstunde vom Hauptbahnhof entfernt liegt die Elbinsel Kaltehofe. Der Name klingt unwirtlich und in gewisser Weise ist das Areal das auch. Für Menschen war die Insel nämlich die meiste Zeit ihrer Existenz Sperrgebiet – zumindest, wenn sie keine Wasserwerker waren. Die Hamburger Wasserwerke haben hier seit 1893 Trinkwasser bereitet, erst Elbwasser, und als das zu dreckig wurde, seit den 60er Jahren Grundwasser. Auf eine denkbar einfache Weise: 22 Becken, jeweils so groß wie ein Fußballfeld, wurden geflutet, das Wasser sickerte durch Sandschichten und kam sauber wieder heraus. Ganz langsam.

Diese Langsamkeit hat sich auch erhalten, als die Wasserwerker die traditionelle Aufbereitung 1990 aufgaben: Schritt für Schritt hat die Natur Kaltehofe erobert. Nach nicht einmal zwanzig Jahren sieht die Anlage aus wie die reinste Wildnis – Feuchtbiotope in verlandeten Becken, bemooster Backstein und an der Südostspitze eine undurchdringliche Buschlandschaft, in der seltene Vögel brüten und Rehe ein- und ausgehen, obwohl drum herum ein hoher Zaun steht.

Der Zaun ist damit eine Art Bestandsgarantie für das Naturidyll. Ferngehalten hat er nämlich zumindest die Menschen. Die haben sich von Ferne an der Natur erfreut: Kaltehofe ist ein Mekka für Ornithologen. Reihenweise sitzen sie mit ihren Ferngläsern an der Wasserkante, wenn aus dem Dickicht Gänsesäger, Krick- und Löffelenten aufsteigen, um sich im angrenzenden Süßwasserwatt in der Billwerder Bucht satt zu fressen. Kormorane und Reiher ringen ihnen kaum mehr als ein müdes Lächeln ab. Sogar ein Seeadler ist schon gesichtet worden. Das Vattenfall-Heizkraftwerk am anderen Ufer oder die rostigen Kähne, die dort abgewrackt werden, scheinen weder die Vögel noch ihre Freunde zu stören. Und auch mit den Ausflüglern haben sie sich arrangiert: Die kommen vor allem aus Rothenburgsort, einem traditionellen Arbeiterstadtteil, skaten, joggen oder radeln die perfekt asphaltierte Deichstraße entlang oder lümmeln sich auf dem Deich. Ein paar ganz Verwegene springen im Sommer sogar in die Norderelbe.

Nun soll alles anders werden. Pläne gab es schon viele für Kaltehofe. In den achtziger Jahren sollte dort einmal der Stadtteil „Klein-Venedig“ entstehen. Aber mit einer Wohnnutzung würde es wohl schwierig werden: Von der Norddeutschen Affinerie auf der benachbarten Elbinsel Peute wehen mehr Schwermetalle herüber, als die EU dem menschlichen Daueraufenthalt für angemessen hält. Gerüchteweise soll sogar das Deichgras zu giftig für Schafe sein. Der Hamburger Senat hatte Kaltehofe in seiner Strategie „Wachsende Stadt“ als Industriefläche vorgesehen. Dass die Insel nun der Naherholung dienen soll, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sie in fußläufiger Entfernung zur Hafencity liegt, bei deren Entwicklung man sich nennenswerte Grünflächen nicht leistet.

Das Bild vom Dornröschen passt ganz gut: Das Juwel Kaltehofe war bisher durch die Dornen des Stacheldrahtzauns geschützt. Will man es wachküssen, muss das behutsam geschehen – sonst geht seine besondere Qualität für immer verloren. Aber vielleicht muss man auch eher von einem „schlafenden Riesen“ sprechen: 45 Hektar groß ist die Insel, mitten in der Stadt. Knapp ein Drittel davon soll jetzt für die Öffentlichkeit zugänglich werden, so hat eine Agenda21-Konferenz unter Leitung der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald es beschlossen.

Die Planung macht das Studio Andreas Heller, das sich in Norddeutschland mit anspruchsvollen Ausstellungen wie „Verbrechen der Wehrmacht“, dem Bremerhavener Auswandererhaus oder dem HSV-Museum einen Namen gemacht hat. Architekt Heller ist sich der heiklen Aufgabe bewusst: „Kaltehofe war bisher ein stilles Vergnügen“, sagt er. Und was auch immer er tut, es wird daran etwas ändern. Heller will in den alten Filterbecken entstandene Biotope erlebbar machen, einen Naturlehrpfad anlegen, ein Kinderplanschbecken, einen Modellbootteich und einen Wasserparcours einrichten sowie eine Ausstellung über die Trinkwassergewinnung. In den winzigen Brunnenhäuschen, vom Speicherstadt-Architekten Franz Andreas Meyer im historistischen Zuckerbäcker-Backsteinstil entworfen, könnten Vogelbeobachtungplätze entstehen. So weit war alles in der Agenda-Konferenz konsensfähig.

Aber das Herzstück der Anlage soll ein 50 Meter hoher, schlanker Aussichtsturm werden, den Heller nach alter Wasserkunst-Tradition mit Fontänen bespielen will. Seine Eintrittsgelder sollen gemeinsam mit einer Konzertbühne und einem Café in der alten Wasserwerker-Betriebsvilla zur Finanzierung des Projekts beitragen. Und der umstrittenste Punkt: ein Parkplatz soll gebaut werden. Das heißt: Erstmals wird nach fast 20 Jahren wieder Autoverkehr auf die Insel kommen. „Für die Refinanzierung des Projekts brauchen wir Menschen“, sagt Heller. Geplant sei ohnehin ein jährliches Defizit von 150.000 Euro, das die Stadt und der Eigentümer Hamburg Wasser sich teilen wollen. „Und das ist in diesen Zeiten doch erstaunlich genug, oder?“, fragt der Planer.

Alte Kaltehofe-Aktivisten schaudert es bei der Vorstellung, die Insel könnte ein weiterer Baustein in der Event-Strategie der Stadt werden. „Froschkonzerte und Nachtigallengesang sind nicht ersetzbar“, schreibt Stadtplanerin Hanne Hollstegge, die sich seit ihrer Diplomarbeit mit Kaltehofe befasst und Führungen anbietet. „Wir müssen die Menschen einladen, ohne Auto zu kommen“, sagt Ingo Boettcher, der für die Stadtteilinitiative Hamburgs Wilder Osten am Agenda-Prozess teilgenommen hat. Dafür müssten als erstes barrierearme Verbindungen für Fahrräder geschaffen werden – „und für alles andere, was rollt“. Unmotorisiert, versteht sich. Boettcher ist klar, dass man Kaltehofe dem „Erholungsdruck“ nicht entziehen kann, aber er will dafür sorgen, dass die bisherigen Nutzer – Menschen wie Tiere – nicht verdrängt werden. „Der Parkplatz“, sagt er schmunzelnd, „ist in den Planungen auch immer kleiner geworden …“

Die Menschen werden sich ein Stück Kaltehofe zurückholen, das ist sicher. Und irgendwie scheint es auch ihr gutes Recht: Schließlich wurde die Insel künstlich angelegt.