Anders ticken im Normbereich

WIRTSCHAFTLICHE ENTSCHEIDUNGEN Der Nobelpreisträger George A. Akerlof entwirft mit seiner Kollegin Rachel E. Kranton ein neues ökonomisches Konzept – die Identity Economics

Der Mensch richtet sich nach Normen – auch wenn er arbeitet, wenn er kauft, wenn er lernt

VON JOHANNES GERNERT

Wer erklären will, warum der eine einen entkoffeinierten Fair-Trade-Semi-Latte mit laktosefreier Ziegenmilch bestellt, eine andere aber einen schlichten Pott Jacobs Krönung, wer verstehen möchte, warum eine sich totschuftet, bis die Putzfrau sie um Mitternacht geplättet von ihrer Schreibtischplatte kratzt, ein anderer aber um 15.30 Uhr fröhlich pfeifend nach seiner letzten Partie Tetris aus dem Büro schlendert, wer sich als Wirtschaftswissenschaftlerin also dafür interessiert, wie Menschen ihr Geld verdienen oder es wieder ausgeben, der sollte sich nicht nur mit Löhnen und Preisen beschäftigen, sondern auch damit, wer diese Menschen eigentlich sind. Er sollte sich fragen, was sie motiviert. Und vor allem: wer sie glauben sein zu müssen. Er sollte sich auch mit der Identität dieser Menschen beschäftigen und damit, wie ein sozialer Kontext diese Identität prägt.

So simpel ist das ökonomische Konzept, das George A. Akerlof und Rachel E. Kranton in ihrem Buch „Identity Economics“ erläutern. Mag die Grundidee auch banal klingen, Akerlof und Kranton erscheint sie genial bis revolutionär, das signalisiert schon der Untertitel: „Warum wir ganz anders ticken, als die meisten Ökonomen denken“. Die Autorinnen lehren Volkswirtschaften, er in Berkeley, sie an der Duke University, und sie nehmen eine „Bruchlinie“ wahr zwischen einer Wirtschaftswissenschaft, die Identität und Normen berücksichtigt, und einer, die das nicht tut.

Der soziale Kontext

Im Zentrum der ökonomischen Überlegungen steht die Nutzenfunktion, „ein mathematischer Ausdruck für das, was einer Person wichtig ist“. Diese Funktion drückt Präferenzen aus, beispielsweise den Wunsch nach Prestige und Gerechtigkeit, wie bei manchen Käufern des fair gehandelten Latte. Bislang, behaupten nun Akerlof und Kranton, hätten Ökonomen diese Präferenzen als individuelle Merkmale betrachtet, als etwas Unveränderliches. Sie seien aber abhängig vom sozialen Kontext.

Der Mensch richtet sich nach Normen – auch wenn er arbeitet, wenn er kauft, wenn er lernt. Das ist die Achse, um die das Konzept von Akerlof und Kranton kreist. Sie illustrieren ihre Überlegungen mit einem Beispiel des Soziologen Erving Goffmann, der beobachtet, wie unterschiedlich Kinder sich auf einem Karussell benehmen. Die Jüngsten lachen und winken, die Teenager freuen sich auch, versuchen aber, ihre Freude zu verbergen. Sie spüren, dass man das eigentlich nicht mehr macht – in ihrem Alter. Menschen ordnen sich in soziale Kategorien ein, versuchen nach den Normen und Idealen dieser Kategorie zu leben und erhalten so ihren Identitätsnutzen. Oder bei Abweichungen: den Identitätsverlust.

George A. Akerlof hat 2001 den Wirtschaftsnobelpreis erhalten, für eine Erkenntnis, die als „Saure-Gurken-Problem“ ins Deutsche übersetzt worden ist. Akerlof stellte fest, dass die ungleich verteilte Information auf dem Gebrauchtwagenmarkt dazu führt, dass mehr schlechte als gute Autos angeboten werden, weil die Käufer nicht wissen, ob ihnen gerade eine saure Gurke angedreht werden soll, und deshalb in der Regel nicht mehr als einen Durchschnittspreis zahlen wollen, was wiederum die Verkäufer extrem gut erhaltener Wagen abschreckt.

Rauchen und arbeiten

Die Idee von der Identitätsökonomie haben Akerlof und Kranton seit 1995 immer weiter entwickelt und verfeinert. Sie erklären damit, warum Frauen irgendwann in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu rauchen beginnen und weshalb sie zu der Zeit viel seltener arbeiten als ihre Männer.

Der Markt bleibt weiter von Angebot und Nachfrage bestimmt, das ist die Grundannahme, aber in diesem Spiel wird die Identität in den „Identity Economics“ zu einem entscheidenden Faktor. Frauen hatten seltener Jobs, weil das gesellschaftliche Frauenbild, die Norm, das so vorsah. Zu arbeiten, so argumentieren die Autorinnen, hätte bedeutet, die Identität als Frau aufzugeben, ein Verlust also. Erst als sich dank der Frauenbewegung die Norm ändert, nimmt die Zahl der berufstätigen Frauen zu. Ganz ähnlich verhalte sich das mit dem Rauchen.

Monetäre Anreize verlieren in diesem Wirtschaftsbild an Bedeutung. Prämien sind zwar eine Möglichkeit, die Leute in einer Firma zu motivieren. Die effektivere aber: Man schafft Identifikation mit den Normen eines Betriebs. Wer sich als „Insider“ fühlt, arbeitet auch für weniger Geld gut.

Wenn Akerlof und Kranton auf diese Weise ihre Logik für unterschiedlichste Fallbeispiele durchdeklinieren, von der Maschinenhalle bis in die Schulen, wirkt der gesellschaftliche Kontext wie eine beunruhigend erdrückende Determinante. Aber vielleicht muss er das auch. Damit er wirtschaftswissenschaftlich überhaupt erst einmal wahrgenommen wird.

George A. Akerlof/ Rachel E. Kranton: „Identity Economics. Warum wir ganz anders ticken, als die meisten Ökonomen denken“. Aus dem Engl. v. Helmut Dierlamm. Hanser Verlag, München 2011, 208 S., 19,90 Euro