Schnelles Kopfschütteln, Stottern, Abwehr

CHOREOGRAFIE Wie passen Tanz und postkoloniale Theorie zusammen? Das eben zu Ende gegangene Festival „Return to Sender“ suchte im HAU nach Antworten. Ein Resümee

Ein Mensch, schwarzes Trikot, rote High Heels, rennt und rennt wie ein Teufel auf seinen Hörnern durch Gent, Belgien. Ein Büßer-Marathon? „Acht Kilometer Rennen mit roten Stöckelschuhen auf Pflastersteinen“ (2009) lautet der konkrete Videotitel dieses Stadtraum-Happenings von Mehdi-Georges Lahlou. In einer anderen Nummer trabt Lahlou, selbes Outfit, in einer niederländischen Galerie über Hindernisse in Kniehöhe. Seine Sprünglein landen statt im Wassergraben auf den hinter den Hürden arrangierten Mosaikfliesen – mit quasisakraler Ausstrahlung. Sprünge, Sprünge: über Hindernisse, im Spiegel der Vergangenheit. Es klirrt. Parcours um Parcours.

So lassen sich diese Arbeiten im Kontext des Festivals „Return to Sender“ am HAU lesen, das zehn Tage lang postkoloniale Positionen aus sechs afrikanischen Ländern vorstellte und dabei Weltbilder zu Bruch gehen ließ. Anlass für dieses „Performing back“ war der 130. Jahrestag der Berlin-Konferenz, die den Kontinent am Reißbrett aufteilte und ein vertragliches Regelwerk zu seiner Ausschlachtung festlegte. Die Deutschen mordeten daraufhin Hereros und Namas. Leopold II. kaufte sich den Kongo. Und die Soldaten für seine Kriege gleich mit. 32 davon fielen, laut dem in Kisangani arbeitenden Starchoreografen Faustin Linyekula, im Ersten Weltkrieg in Belgien. Ihnen widmete er zusammen mit seinem Weggefährten Flamme Kapaya an der E-Gitarre das Stück „Statue of Loss“.

Als Performer tanzt er, wie er oft tanzt, wenn es um Schmerz geht: wellenförmige, leicht asymmetrische Bewegungen um eine X-förmig nach innen kippende, mehrfach gebrochene Achse. Hinzu kommen nun ein schnelles Kopfschütteln, eine Mischung aus Stottern, Abwehr, Hingabe an Unerlöstes. Die Stimmung ist geisterschwer, Namenslisten werden geloopt, Rassistisches wird verlesen, während Kapaya leicht kontrastierend schicke Riffs plänkelt. So lyrisch kennt man den Musiker hier noch nicht.

Menschliche Exponate

Geht diese Aneignung in im- und expressionistischer Betroffenheitsästhetik auf? Dem heterogenen Publikum geht sie jedenfalls näher als mir, ebenso „Nzela ya Mayi“, das Stück des als Linyekula-Tänzer bekannt gewordenen Dinozord Boyoka über die geistige Heimkehr eines Kongolesen, der zur Brüsseler Weltausstellung 1897 als Völkerschau-Objekt missbraucht wurde. Nach dem kuratorischen Prinzip von Ricardo Carmona (HAU) brachte jedeR eingeladene ChoreografIn – sechs bekannte Größen in ihrem Fach – eine Nachwuchsproduktion mit nach Berlin.

Das geteilte Kuratieren war genauso wie die Besetzung der Podiumsgespräche politisches Programm, um eurozentrische Perspektiven zu brechen. Methodisch gut nachvollziehbar, auch wenn Choreografen nicht unbedingt gute Kuratoren sind. Die meisten brachten ihre Zöglinge mit. Ausnahme war Bouchra Ouizguen aus Marrakesch, die dem Berliner Publikum den verspielt-grotesken, zwischen Körper und barocker Bildersprache arbeitenden Lahlou entdeckte. Auch rein visuelle Arbeiten hatte er im Gepäck, in denen crossreligiöser Ethno-, Ikonen- und Ikonenersatzkitsch zu hintersinnigem Bilderpop einschließlich einer queeren Nofretete verschmilzt.

Ouizguen selbst sorgte mit ihrer Women-Group O für das Publikums-Highlight „Ha!“: feministische Frauenrituale zwischen Hausanzug und Aneignung der Sufitradition, Suche nach Geborgenheit und Lust am Groove. Mit dem Festivalthema war dieses Stück nur sehr implizit verbunden, genauso wie die Frage, wie sich die arabische Welt zu Afrika verhält und wie das europäische zum arabischen Kolonisieren.

Futuristische Gespenster

„2065 BC“, das stärkste Konzeptstück zur Berlin-Konferenz, das die ritualistischen Repräsentationsformen von Macht dekonstruiert und zu einem futuristischen Gespensterreigen montiert, kam jedenfalls von Adham Hafez aus Kairo. Im Gesamten war „Return to Sender“ kein Festival der starken Stücke. Eher eine Etappe auf dem Weg, sich den schweren Themen aus dem gigantischen Giftschrank Europas zu stellen, staatliche Visakriminalität inklusive. ASTRID KAMINSKI