Perfekte, umfassende Musik

Das Publikum sah seine Novemberdepression in Musik gegossen und staunte nach vorn: Zum Abschluss ihrer Tour zur letzten Platte, „The Western Lands“, spielten Gravenhurst im wieder einmal rauchfreien, dennoch gut gefüllten Lido

Es war voll, still und finster. Gravenhurst, das klingt schon nach einem romantisch versunkenen Ort mit Burg, in dem irgendeine Horrorgeschichte aus dem 19. Jahrhundert spielt. Tatsächlich gibt es in den Staaten einen kleinen Ort und in England eine Pfarrei dieses Namens. Die Band Gravenhurst aber kommt aus der Hafenstadt Bristol, veröffentlicht auf dem mit experimenteller elektronischer Musik bekannt gewordenen Label Warp Records und hat mit stylischer Gruftimusik nichts zu tun. Zum Abschluss der Tour zur letzten Platte, „The Western Lands“, spielten Gravenhurst im gut gefüllten Lido in Berlin. Es war voll, still und finster, und dann ließ die Band erst einmal lange auf sich warten.

Gravenhurst besteht im Wesentlichen aus Sänger und Songschreiber Nick Talbot. Der trägt eine unmodische Brille und einen unauffälligen Haarschnitt, und würde er nicht einen entschlossenen Gesichtsausdruck mit sich führen, hinter dem man einen latenten Zyniker vermutet, könnte man ihn auf Anhieb für einen Langweiler halten. So stellt man sich einen Informatiker vor, vielleicht. Jemanden, dem man eine Menge Intelligenz zutraut und genauso viel Nerdhaftigkeit. Das Gegenteil von Ausschweifung, Renitenz, fortwährender Postpubertät. Das Gegenteil von Rock’ n’ Roll eben.

Tatsächlich handeln seine Stücke hauptsächlich von Unterstädten, Abwesenheiten, Stränden mit schwarzen Löchern und einsamen Spaziergängen am Flussufer. In seinem bislang erfolgreichsten Stück, „The Velvet Cell“, geht es um die Poesie eines Amoklaufs. „To understand the killer / I must become the killer / and I don’t need this violence anymore / but now I’ve tasted hatred I want more.“ Übrigens ein in jedem Einzelnen schlummerndes Bedürfnis, wie der Song klarmacht.

Um es noch einmal deutlich zu sagen: Gravenhurst ist keine Gruftiband. Sie macht nur dramatische, immer leicht melancholische Musik mit entsprechenden Texten. Genau das macht Gravenhurst so gut und besonders: dass die hier in Moll ausgedrückten, nachvollziehbar gemachten Emotionen ohne Posen und ohne jeden äußeren Fetisch auskommen. Sie brauchen weder Mascara noch Kutte. Umso gefährlicher sind sie.

Gravenhurst machen also keinen Gruftrock. Was sie machen, ist eine Mischung aus Slow Core (Bands wie Codeine oder Bedhead könnten hier Vorbilder sein) mit hohem Lärmanteil und Quiet is the New Loud. Perfekte, umfassende Musik. Talbots Stimme, seine Art, zu singen, klingt nicht von ungefähr wie die Erlend Øyes von den Kings of Convenience. In den wirklich lauten Passagen, zum Beispiel auch bei „The Velvet Cell“, geht seine gehauchte Stimme fast unter. In den leisen Passagen wirkt sie in voller Breite.

Das Konzert vom Mittwoch begannen sie mit einer ausufernden Instrumentalpassage. Der Gesang setzte erst mit Minute 15 ein. Talbot und Band, Huw Cooksley am Bass, Dave Collingwood am Schlagzeug, und ein neuer Gitarrist, der vom Aussehen her als Talbots Bruder durchgehen könnte, steigerten sich kontinuierlich, entfalteten eine kalte Melancholie und nach und nach intensive Lärmorgien, für die sie immer wieder Szenenapplaus bekamen. Das Publikum sah seine Novemberdepressionen zu Musik gegossen und staunte nach vorn. Die Stücke des neuen, nicht nur im Titel westernorientierten Album wurden allerdings distanzierter aufgenommen als die vom Vorgänger, „Fires in Distant Buildings“.

Obwohl sich auch auf dem neuen, in der Fachpresse gefeierten Album herausragende Stücke befinden. „Hollow Men“ etwa. Oder der Song, den Talbot mit den schlichten Worten „The next song is called ‚Trust‘ “ ankündigt. „Trust is a hard thing to come by these days“, heißt es darin. Es mag sein, dass „The Western Lands“ in Teilen zu dicht, zu gefährlich, zu beängstigend klingt. Mit dem Zulassen vermeintlich negativer Gefühle wie Verachtung, Wut und Melancholie haben die meisten Nichtmelancholiker unglücklicherweise ohnehin ein Problem. Eine Band wie Gravenhurst könnte da aber Abhilfe schaffen.

Die Zugabe bestritt Talbot allein. Zwei weitere Stücke aus „Fires in Distant Buildings“, eines davon bereits aus dem Publikum gefordert. Es hieß „Nicole“. „From the moment we met we let it go out of control / the universal dance / the black romance of running prey“. Damit müsste alles gesagt sein. Draußen in der Stadt war es leer, still und finster. Und bitterkalt. RENÉ HAMANN