„Lauter Verrückte!“

MISSTÖNE Ein tadelloses Bild einer zerrissenen Zeits liefert das Mythos Berlin Festival im Konzerthaus. Mit einer vergessenen Oper von Franz Schreker und Marc Blitzsteins „Triple-Sec. Die Sünde des Lord Silverside“

Hanns Eisler lässt in seiner Filmmusik Blech schmettern, unauffällig werden Hörgeräte runtergeregelt

VON JENNI ZYLKA

10 Tage wach! Mit freundlicher Unterstützung von Schampus, Koks und wilder Musik. So lief der Hase damals, im kulturellen Berlin der 20er Jahre, schenkt man dem Mythos Glauben. Und so lautet folgerichtig das Motto des zehntägigen Festivals im Konzerthaus am Gendarmenmarkt, dessen imposant-klassizistische Schinkel-Mauern noch bis zum 22. März dementsprechende Konzerte, Filme und Partys beherbergen.

Was toll funktioniert: Im Großen Saal, erhellt von dicken Kronleuchtern, spielt das Konzerthausorchester Berlin unter der Leitung von Markus Stenz beispielsweise Stücke von Franz Schreker, als Jude damals von den Nazis verfemt, später in den Zwangsruhestand versetzt, seine Musik galt in großen Teilen jahrelang als verschollen. Opernkomponist Schreker hatte einst die böse, irre Oscar Wilde-Novelle „Der Geburtstag der Infantin“ als Suite vertont. Die Geschichte handelt von einem „kleinen Zwerg“, der begeistert zu Ehren jener verwöhnten Infantin tanzt und das hämische Lachen der kindlichen Geburtstagsgesellschaft als Bewunderung missdeutet. Am Ende sieht er sich das erste Mal im Spiegel und stirbt an gebrochenem Herzen.

Harmonien zerhackt

Das dazugehörige Crescendo des großen Orchesters am Samstag ist derart überzeugend, dass sich der Schlagwerker, der vor den Pauken sitzt, kurz die Ohren zuhalten muss. Immer wieder mischen sich in der Programmauswahl düstere, verzweifelte Misstöne in die Musik, werden Harmonien zerhackstückt, Enden offen gelassen und so die Zerrissenheit dieser so trotzig-feierwütigen wie gebrochenen Zeit zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Schwelle zur Machtübernahme der Nazis hörbar gemacht.

In der zweiten Hälfte des sechsteiligen Konzerts schickte Hanns Eisler, Schönberg-Schüler und -Kritiker, den Großteil der Streicher in die Pampa und ließ für die Filmmusik zu „Kuhle Wampe“ – nach einem Drehbuch von Bertolt Brecht – vor allem Blech schmettern, auf dass einem die Eingeweide aufs Angenehmste schlackern und beim Abonnementenpublikum unauffällig die Hörgeräte runtergeregelt werden. „Angewandte Musik“ wolle er machen, die Teil des politischen Kampfes sein sollte, hatte Eisler gesagt und Schönbergs Zwölftontechnik als zu elitär abgetan. Jene als „Orchestersuite Nr. 3“ aufgeführte Filmmusik stampft tatsächlich ohne weitere intellektuelle Umwege direkt ins Herz und lässt es links und solidarisch im Fabriktakt schlagen.

Für die folgenden drei „Bruchstücke aus der Oper Wozzeck“ von Alban Berg kann man auf einem Schild über dem Orchester lesen, dass die Premiere 1925 zu Tumulten geführt hatte: „Auf der Bühne, im Orchester, im Parkett: Lauter Verrückte!“ Die Sopranistin Annette Dasch singt die Marie mit Verve und wütend-deutlichen Verschlusslauten: „Bist nur ein arm’ Hurenkind / und machst deiner Mutter doch soviel Freud / mit deinem unehrlichen Gesicht! Eiapopeia.“ Bitter ist das und mitreißend.

Noch mehr muss unbedingt angehört werden: Im Werner Otto-Saal läuft die europäische Uraufführung des 1928 entstandenen einaktigen „Opernsketches“ „Triple-Sec. Die Sünde des Lord Silverside“ vom in Deutschland bis auf wenige Arbeiten vergessenen Marc Blitzstein: Mit „Hello Suckers!“ betritt die Conférenciere die kleine Bühne, dann geht es Schlag auf Schlag: Seine Lordschaft, ein windiges Fürstchen, vergnügt sich mit der Geliebten, die Angestellten munkeln von einer unbekannten Dame, die kommt dazu und will Satisfaktion, aber huch! Plötzlich sieht die Lordschaft die Unbekannte doppelt, die Geliebte dreifach und weitere hübsche Damen gleich siebenfach, und alle singen! Eins von den 30 Triple-Secchen war wohl schlecht.

Die vom Jazz beschwingte einaktige Gerswhin-Oper „Blue Monday“ danach bezieht sogar den Bass-Barkeeper mit ein, handelt von – natürlich – Liebe und Verrat und macht deutlich, wie unerhört das war, was Gershwin aufeinander losließ: Jazzmusik, damals durch Improvisation und Gefühl lebende Kultur der Schwarzen, und das Gegenteil – die strenge, in der Lehre hochakademisch vermittelte Oper. Dass die Veranstalter diese Stücke fanden und kombinieren, ist eine prima Idee.

Dennoch wird hier mehr als bei der Neuen Musik im Großen Saal sichtbar, was leider beim gesamten Festival fehlen muss: Wie kann man eine Oper über den Rausch, eine Nachtclub-Dramödie aufführen, ohne auch nur ein Fitzelchen echte, drogenschwangere Baratmosphäre?

Was fehlt? Blauer Dunst!

Selbstverständlich darf vor Sängerkehlen nicht geraucht werden, aber nie ging einem der Teer mehr ab als in dem Augenblick, als der „Triple-Sec“-Butler nur pantomimisch gen Himmel pafft. Das Modern Art Ensemble unter der Leitung von Evan Christ spielt diese grandios-besoffenen Kurzstücke tadellos und leidenschaftlich. Doch gern hätte man sein Champagnerglas auf einem Tischchen mit roter Decke abgestellt und beim heftigen Applaudieren Rauchschwaden weggewedelt.

Am nächsten Samstag gibt es zwar im Kleinen Saal des Konzerthauses eine Party im 20er-Jahre-Stil, aber wenn während des Festivals ein kleiner, dunkler, schwülstiger, blaudunstiger, mit Swingmusik und Cocktailshakergeklapper untermalter Bums zum Verweilen eingeladen hätte – man hätte die zehn Tage tatsächlich durchgemacht.