POLITISCHE GESPRÄCHE BEI CARAMS „SOUPE PEURPULAIRE“: Angst vor dem Verfolgerschatten
ELISE GRATON
Neulich auf dem Fahrrad bemerke ich, wie sich mein Schatten durch die in regelmäßigen Abständen über der Straße leuchtenden Laternen erst weit vor mir in die Ferne streckt, dann allmählich schrumpft, von meinem Rad verschluckt wird, um wieder abrupt vor mich in den nächtlichen Horizont hinausgespuckt zu werden. Es fühlt sich an, als würde ich auf der Stelle treten – und schon ein wenig Müdigkeit reicht aus, um sich für einen Moment in einem kontemplativen Zustand zu verlieren.
So radle ich vor mich hin, als ich plötzlich einen zweiten Schatten bemerke: Ein anderer Fahrradfahrer, der mich allerdings nicht überholt, sondern etwa einen Meter hinter mir dasselbe Tempo zu halten scheint. Darüber grübelnd, ist schon wieder eine Minute vergangen – mitten in der Nacht, auf einer einsamen Straße, ist eine Minute sehr, sehr lang. Da passt es, dass ich zuvor auf einer Veranstaltung zum Thema „Angst“ war. Unter dem offiziell klingenden Motto „Soupe peurpulaire“ – das Wort „peurpulaire“ setzt sich aus „peur“ (Angst) und „populaire“ (volkstümlich) zusammen – hatte mein Freund Caram Leute zusammengetrommelt, um bei Linsensuppe, fünf Sorten Hummus und Oliven ein spontanes Angst-Symposium abzuhalten.
Caram ist deutsch-ägyptischer Grafikdesigner und Aktivist: Unzählige Austauschprojekte in den Bereichen Film, urbane Kunst oder Journalismus hat er in den letzten vier Jahren zwischen Deutschland und Ägypten erdacht, angestoßen und eigenhändig organisiert. So viele, dass ich mich manchmal frage, wo er eigentlich die Zeit und Ausdauer hernimmt.
Bei der Soupe peurpulaire jedenfalls saßen am Tisch deutsche Verleger, libanesische Wissenschaftler, französische Journalisten und unklassifizierbare Tausendsassas, deren Ahnen aus aller Herren Länder stammen. Die Ankunft der Gäste zog sich über den gesamten Abend hin, jeder Einzelne wurde mindestens fünfmal vorgestellt.
Da in diesem Kreis wohl einzig Caram einen persönlichen Bezug zu allen Gästen hatte, war er auch der Einzige, der sich nie vorstellen musste. Irgendwann fing die Runde aus Protest an, ihm eine neue, fiktive Biografie anzudichten: Und das hier ist Caram … früher war er mal Trapezkünstler … der abstürzte und auf ein Zirkuspferd fiel … das ihm mit einem Huftritt ins aufgerissene Maul eines Löwen schleuderte. Daher auch dieses Loch in seinen Jeans.
Auch wenn es mal entgleitet, Caram neigt dazu, aus jedem noch so informellen Treffen gleich ein politisches Event machen zu wollen. Aber genau dafür schätzt man ihn auch. Denn immer verwendet er eine unglaubliche Energie, verschiedenste Menschen aus unterschiedlichen Richtungen zusammenzubringen. Und dann schaut er, was passiert.
Heute wurden jedenfalls zum Thema Angst kreuz und quer Ansichten über Zensur in Ägypten, Sarkozys mögliches Comeback oder den Libanon ausgetauscht, wo mittlerweile Flüchtlinge aus Syrien fast ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. Als dann Isis angesprochen wird, hakt sich ein Raucher vom Balkon ein: „Meint ihr die ägyptische Göttin oder die terroristische Organisation, die wir Daesh nennen?“ Irgendwann, spät, trat ich dann den Heimweg durch das kalte Berlin an.
Jetzt, von dem fremden, mich begleitenden Fahrradschatten beunruhigt, genügt ein kurzer Blick über die Schulter zur Deeskalation: Die Frau hinter mir, die im gleichen Takt in die Pedale tritt, hat mich gar nicht bemerkt. Sie starrt völlig verträumt auf ihren eigenen Schatten, wie er wächst, verschwindet und dann wieder zu wachsen beginnt.
■ Elise Graton ist freie Journalistin und Übersetzerin in Berlin
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