IM WRANGEL-PARADIES: Alles neu
Am dritten Dezember kommt endlich doch noch der November. Mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen stapfen grimmige Gestalten durch die nassgraue Wrangelstraße. Doch da, was ist das? Ein Licht in dunkler Nacht, am Samstagnachmittag um vier? Zögernd trete ich durch die sich lautlos öffnende, glitzernde Pforte: Ich bin im Paradies. Linkerhand eine großzügige, in warmem Licht schimmernde Obsttheke, rechterhand blinkende Spiegel, wie durch Zauberhand sinnvoll angeordnete Regale, nagelneue Plastikkörbe. Das alles eingehüllt in wohlig weiche Weihnachtsklänge.
Denn auch Musik gibt es im neuen Kaiser’s. Wer den alten kannte, den engsten Supermarkt Europas, in dem zwei Kunden nicht mal ohne Wagen aneinander vorbeikamen und dessen Sortiment selbst die ältesten Ostberliner in Erstaunen versetzte, bewegt sich so vorsichtig durch dieses Versailles des Shoppens, als könne es sich jeden Moment in Novembernebel auflösen wie eine flüchtige Konsumschimäre. Alle, die hier sind, Penner, Hipster, Hausfrau, Araber, fühlen sich plötzlich aufgewertet; selbst wer noch nie von einem KaDeWe gehört hat, verspürt hier einen Hauch von Westberliner Luxus und stolziert herum, als trüge er einen unsichtbaren Nerzkragen. Auch das Personal kann sein Glück nicht fassen, knisternde Aufregung umgibt sie, wie sie in ihren schneeweißen Kitteln durch die autobahnbreiten Gänge schlittern. Existenziell getröstet lege ich meine exotischen Waren auf das Laufband und lausche gemeinsam mit dem freundlich lächelnden Kassierer den Klängen von „Last Christmas“.
„Du, Frau Walters, also ‚Last Christmas‘, ick weeß nich“, ruft er zur Nebenkasse rüber. Sie: „Ist doch schön, oder: mit der Musik immer jetze!“ „Ja, aber ick gloobe, dit könnte auf Dauer ooch nerven.“ Also, ich kann mir das beim besten Willen nicht vorstellen. ULLA ZIEMANN
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