die taz vor 18 jahren
: Die hilflosen DDR-Intellektuellen

Revolutionen kommen stets zu früh, und immer werden die Revolutionäre am meisten davon überrascht. Es gibt keine Schonfrist und keinen Schonbezirk, wo abseits der politischen Kräfteverhältnisse an einem alternativen gesellschaftlichen Modell experimentiert werden kann. Der Aufruf „Für unser Land“, veröffentlicht von einer Reihe linker DDR-Intellektueller, beschwört die Entwicklung der DDR zu einer solidarischen Gesellschaft. Aber diese Vorstellungen eines behüteten Weges werden der Wirklichkeit nicht standhalten. Was vermag in einer Situation, wo es materielle Bedürfnisse sind, die die Menschen „Deutschland einig Vaterland“ skandieren lassen, der Appell an die Ideale aus der Gründerzeit der DDR?

Unsere Freunde in der DDR argumentieren, sie bräuchten Raum und Zeit, um die Menschen in der DDR zu überzeugen. Aber von Tag zu Tag weitet sich die Kluft zwischen den Aktivisten des Demokratischen Sozialismus und der Bevölkerung. Die Abstinenz vor der Beschäftigung mit der nationalen Frage droht für die demokratische Bewegung in der DDR fatale Folgen zu zeitigen. Glauben denn die Unterzeichner des Appells wirklich, die Debatte sei nur aus dem Blickwinkel der DDR heraus möglich? Es müßten die Linken, die grün-alternativen Kräfte in beiden deutschen Staaten sein, die jetzt die Möglichkeit gemeinsamer Aktion ergreifen. Statt ständig zu fürchten, daß die DDR vom BRD-Wolf verschlungen wird, wäre es für die Linken in beiden deutschen Staaten an der Zeit, die Nation, wie es Grass formuliert hat, „diesmal von links her zu definieren“. Ansonsten rollt der Kohl-band-waggon. Christian Semler, taz 1. 12. 1989