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Allein unter den Linden

SCHLAGLOCH VON KERSTIN DECKER Advent ist eine gute Zeit, um zu bemerken, dass wir Heimatliche sind

Kerstin Decker

■ ist promovierte Philosophin und lebt als freie Autorin in Berlin. Im Jahr 2010 erschien ihr neues Buch „Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich“ (Propyläen Verlag).

Wieder die Lichter, und sie machen auch in diesem Jahr die Welt so festlich, wie sie nicht ist. Nur spürt man es viel stärker. 1989 durch das vorweihnachtliche Berlin zu gehen, war anders. Weihnachten schien beinahe wie die feierliche Bestätigung des soeben Vorgefallenen. Der Advent hatte bloß schon viel früher begonnen, und dann kam in der Tat etwas Neues zur Welt. Bevor Sie nicht weiterlesen – dies wird keinesfalls ein geistiger Rückfall ins Vorgestern. Aber vielleicht lässt sich im Advent etwas besser verstehen, wer wir eigentlich sind.

Christa-Wolf-Zeilen kreuzen

Wir, welch zu große, zu unspezifische Inanspruchnahme. Wir, das seien im Folgenden die Angehörigen einer voll ausdifferenzierten Hochbeschleunigungswirklichkeit, diese aus verschiedenen Gründen, unter anderem dem der Zeitgenossenschaft, ausdrücklich bejahend.

„Unter den Linden bin ich immer gern gegangen, am liebsten, du weißt es, allein.“ Es geschieht in den letzten Tagen öfter, dass Christa-Wolf-Zeilen durch das Bewusstsein kreuzen, ungerufen, lange verweilend. Ein so einfacher Satz, und auf so einfache Weise schön, dass er geblieben ist.

Aber die von tausenden Lichtern leuchtenden Linden hätte sie wahrscheinlich nicht gemocht. Zu inszeniert. Aber schön sind auch sie. Die Suggestion ist: Es gibt keine Ferne mehr. Diese Adventslinden sind ein Näheversprechen.

Im gesamteuropäischen Vergleich darf Deutschland wohl die Führungsrolle als weihnachtlichstes Land beanspruchen, auch unter Geschmackskriterien. Selbst die sonst so stilbewussten Italiener werden zu Anfängern, wenn es um Weihnachtsdekorationen geht. Die Kränze an den Wohnungstüren seiner Nachbarn betrachtend, neigt der Mensch zu Fehleinschätzungen: Über Weihnachten bin ich grundsätzlich hinaus.

Der öffentlich-adventliche Raum, nicht nur Unter den Linden, dagegen bleibt ein Verführer. Nun mag manchem diese Kolumne noch entgleister vorkommen als der Adventskranz seines Nachbarn. – Wer nicht registriert, zumal in dieser Zeitung, dass all die Festlichkeit nur der Vorwand für eine gigantomanische, systemerhaltende Verkaufsveranstaltung ist, eine Orgie genau der Art, wie die Welt sie sich schon längst nicht mehr leisten kann, dem ist wohl nicht zu helfen.

Aber den anderen auch nicht.

Es müsste ein Lob der Gebrochenheit geben, ja gar ein Lob der Inkonsequenz. Nur wer sollte es singen? Diese Worte scheinen unrettbar, sie klingen zu sehr nach Versagen, nach Charakterlosigkeit. Zu bewundern sind dagegen die Ungebrochenen, die nur aus einem Punkt heraus leben, die Authentischen. Oder ist es Zeit, einzusehen, dass wir mindestens aus zwei Punkten heraus leben?

Gefährliche große Einfachheit

Der Advent ist eine gute Zeit zu bemerken, dass wir Heimatliche sind. Und müsste man Christa Wolf mit nur einem Wort beschreiben, dann wäre es wohl dieses: Sie war eine Heimatliche.

Solche Identitäten sind nie unbedenklich. Denn die Bekenntnishaften aller Couleur, ob es nun Islamisten sind, Rechte oder auch manche Linke, sind auch Heimatliche, Radikalheimatliche. Das eint sie, so weltenfern voneinander sie scheinen. Sie sind die Delegierten der großen Einfachheiten, der Gottesheimaten, der Geborgenheitsversprechen. Und eine Wahrheit spricht in der Tat für sie: Keine Geborgenheit ist „ausdifferenziert“, sie ist immer einfach. Vielleicht sind letztendlich alle Dichter, alle Schriftsteller tendenzielle Heimatvertriebene wie Christa Wolf. Und natürlich, sie können sich auf dem Weg zurück sehr verlaufen.

In der Zeitung Neues Deutschland geschah jetzt etwas höchst Merkwürdiges. Die Redaktion entschuldigte zweimal in kurzer Folge für den Abdruck von zwei Voradventsgedichten, zwei Das-Jahr-stirbt-wir-sterben-mit-Gedichten. Was ist das für eine Zeit – oder vielmehr – für eine Zeitung, die sich für Natur-und-wir-sind-ein-Teil-davon-Gedichte entschuldigen muss?

Die Leser hatten herausgefunden, dass ihre Autoren, Ina Seidel und Hans Baumann, einst sehr hitlergläubig waren. In einheitsdeutschen Gedichtanthologien stehen sie einfach so, ohne biografischen Warnhinweis. Das bestätigt wohl den Verdacht vieler Altlinker Ost, dass die Bundesrepublik bis heute rechts viel mehr toleriert, als sie von links je hinnehmen würde.

Es müsste ein Lob der Gebrochenheit geben, der Inkonsequenz. Denn leben wir nicht aus mindestens zwei Punkten heraus?

Wer benötigt Standbilder?

Nicht nur Christa Wolf, auch Ina Seidel hat viel von Linden gewusst: „Wo kommst du her? Wie lang bist Du noch hier? / Was liegt an Dir? / Unsterblich duften die Linden –“. Das mag etwas zu warm gefühlt, zu warm gesagt sein, doch auch dieser Lindensatz ist schön. Ihn zu verstoßen aus dem Reich des Humanen hinterlässt einen schalen Beigeschmack.

Nicht jeder Gang Unter den Linden muss beim Brandenburger Tor enden, man kann auch kurz vorher in die Wilhelmstraße einbiegen. Da, schon fast beim Holocaustdenkmal, steht noch ein Denkmal; vor genau einem Monat wurde es eingeweiht, und es war seltsam still darum. Neue Denkmäler pflegen in Berlin mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, schon lange bevor sie da sind, und danach erst recht. Eigentlich sind es nur ein paar Adventslichter mehr, aber sie bilden eine markante Linie. Es ist das Profil eines Gesichts, nur sieht so kein Weihnachtsengel aus. Es ist ein ganz individuelles Gesicht.

Denkmäler heute pflegen abstrakter zu sein. Aber hier ist es wohl Realismus, denn dieser Mann hatte keine Genossen. Den Einsamsten von allen, hat Rolf Hochhuth diesen Georg Elser genannt, lange Zeit bestvergessen in Ost und West. Er hatte im Münchner Bürgerbräukeller ein Attentat auf Hitler vorbereitet hatte, das gelungen wäre an diesem 8. November 1939, wäre der Diktator nicht Minuten vorher völlig ungeplant aufgebrochen. Georg Elser, ein Einzelner, ein Ungebrochener nicht.

„Was liegt an Dir?“ Nichts und alles, sagt dieses Denkmal. Und das Schönste ist vielleicht, dass es den Boden fast nicht zu berühren scheint. Es scheint sich festzuhalten in der Luft. Nur die allzeit geraden Sinnes sind, haben Standbilder nötig.

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