Alles voller Antworten

Mit Germaine Richier und Anja Fußbach zeigt das Bremer Marcks-Haus zwei grundverschiedene Künstlerinnen, die sich auf tierischer Ebene sehr produktiv begegnen

Das Aufbrechen der Oberflächen war für Richier offenbar Passion – für die Gießer müssen ihre Aufträge das Grauen gewesen sein

VON HENNING BLEYL

Selten sieht man das Gerhard-Marcks-Haus so grasgrün. Die Bremer Institution, die sich gern als „das Bildhauermuseum im Norden Deutschlands“ bezeichnet und damit einen großräumigen Geltungsanspruch formuliert, präsentiert ihre Ausstellungen in der Regel in gediegen weißen Wänden. Sicher, auch einen schwarz hinterlegten Lehmbruck gab es mal oder den minzigen Reg Butler. Aber das sind punktuelle Ausnahmen im neoklassizistischen Weiß-Style der früheren Stadtwache – ebenso wie jetzt Germaine Richier, die französische Abstrakte.

Auf den ersten Blick denkt man: Passt doch. Bei all den Insekten, die bei Richier herumkrabbeln, ist so ein wiesiges Ambiente genau richtig. Aber dann kommt man näher, steht Aug’ in Aug’ mit allerlei Ameisen und einer „Gottesanbeterin“, halb Frau, halb Tier, der man ungern in animierter Form begegnen würde. Und weiß: Eine Beschäftigung mit Richiers Kunst ist alles andere als ein kunsthistorischer Ausflug ins Grüne. Nicht umsonst galt sie vielen ihrer Zeitgenossen in den 40er und 50er Jahren als shocking.

Richier, 1902 in Südfrankreich geboren, beschäftigte sich zwar ausgiebig mit dem Getier ihrer Heimat. Zunehmend interessierte sie sich jedoch für Surreales, Fantastisches bis hin zu Esoterischem. „Allein das Menschliche zählt“, der etwas betulich klingende Titel der aktuellen Ausstellung, war für Richier dabei tatsächlich die – in einem Brief an ihren Mann formulierte – Quintessenz der künstlerischen Suche. Das Ergebnis ist freilich nicht besonders anthropomorph, sondern ziemlich hybrid. Zum Beispiel ihr „Don Quichotte“: Der Ritter der seltsamen Gestalt stakst auf dicken Ästen umher, seine Nase ist ein verkohltes Stück Holz, auch der rechte Arm könnte gut und gern an einem Baum wachsen. Und doch wirkt dieses Wesen auf eine seltsame, sehr menschliche Art berührend.

Spannend wird Richiers Werk auch durch dessen Dualität – zeitlebens arbeitete sie parallel mit „normalen Modellen“, um ihrer Abstraktionslust nicht alleinigen Lauf zu lassen. Richier suchte sehr bewusst die Selbstkontrolle durch die Auseinandersetzung mit gewachsenen Proportionen. Wohlweislich haben die Marcks-Leute unter anderem einen streng akademischen Kopf aus Richiers Händen in der Ausstellung platziert, der mit dem übrigen Oeuvre nur das Material gemein zu haben scheint.

Das Marcks-Haus beglückt seine BesucherInnen mit dem weitgehenden Verzicht auf Vitrinen. So kann nicht nur die, vom Körperumfang her an Picasso erinnernde, „Sitzende Frau“ ihre volle Raumwirkung entfalten, sondern auch das abenteuerlich zerklüftete Hinterteil der „Törichten Jungfrau“. Das Aufbrechen der Oberflächen war für Richier nicht nur Programm, sondern offenbar Passion – für die Gießer müssen ihre Aufträge das Grauen gewesen sein. Richiers „Orkanin“ etwa, die die BesucherInnen in der Eingangshalle des Marcks-Hauses empfängt, wirkt in ihrer grauslichen Zerfurchtheit wie ein Fund vom Meeresgrund aus 2.000 Meter Tiefe, nach ebenso vielen Jahren.

Wer Metall den Charakter des Verwesenden abringen kann, versteht sein Metier. Nach 1945 erfuhr Richier weltweit Anerkennung, noch bei der dritten „Documenta“ (1964) war Richiers Werk präsent. Danach geriet es bis zu einer gewissen Renaissance in den 90er Jahren in Vergessenheit. Offenbar ließ sich die Balance zwischen Figürlichkeit, Montage und Abstraktion zu wenig zuordnen.

Das Marcks-Haus beteiligt sich jetzt nicht nur an den aktuellen Bemühungen um die Wiederentdeckung von Richiers Werk, sondern versetzt es mit der ergänzenden Ausstellung einer Bremer Künstlerin auch in eine Dialogsituation: Im „Pavillon“ des Marcks-Hauses, historisch gesehen ein Abort, stellt derzeit Anja Fußbach eine Figurengruppe aus. Die Stahlwerkerin schweißt und nietet gern zusammen mit Punks und anderer jugendlicher Klientel, mit Richier trifft sie sich zunächst thematisch: Auch Fußbach interessiert sich für die Fauna. Metallene Ratten machen auf einem Schutthaufen Männchen, ebenso wie Richier phantastet Fußbach ein dazugehöriges Szenario: Ihre Nager, offiziell als Erdmännchen bezeichnet, stecken in zusammengesuchten Pelzen und richten ihre Blicke hingebungsvoll auf ein gesticktes Bild. Dort trägt ein schwarzer Mann, wie eine Krone, eine Packung Butterkekse auf dem Kopf. Deren Inhalt steckt oblatengleich in den Rattenpfoten, ein Keks-Kult scheint zelebriert zu werden. Die Künstlerin weist dem Geheimnis der Versammlung eine konkrete Richtung: „52“ nennt sie ihre Schau, „eine alternative Antwort auf die Fragen aller Fragen“, wie sie in „The Hitchhikers Guide to the Galaxy“ gestellt wird. Während dort die „42“ als Lösung aller Lösungen präsentiert wird, hat Fußbach die Antwort bei Bahlsen gefunden: Dessen Backwerke haben 52 Zähne.

Schade nur, dass Richier weder mit Frage noch Antwort etwas anzufangen wüsste. Aber das gehört auch für Fußbachs Zeitgenossen zum Reiz des Settings.

Germaine Richier: bis 17. Februar im Bremer Gerhard Marcks-Haus. Die Ausstellung von Anja Fußbach ist bis zum 20. Januar im dazugehörigen Pavillon zu sehen