Im Musikmuseum

Am sicheren Ufer der Abstraktion: Roland Schwab hat an der Deutschen Oper Berlin die Oper „Tiefland“ von Eugen D’Albert neu inszeniert – aber modern wird das Stück trotzdem nicht

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Opernhäuser sind keine Museen. Dass der Vorrat an Werken, die mit einiger Aussicht auf gegenwärtige ästhetische und gesellschaftliche Bedeutung aufgeführt werden können, so auffällig begrenzt ist, und dass nur selten neue hinzukommen: All das ist kein Zufall. Es liegt an den Bedingungen dieser Kunstform, die mit jeder neuen Aufführung ihre Tradition in Frage stellen und neu interpretieren muss. Museen dagegen sind stolz darauf, wenn sie Kunstwerke der Vergangenheit in großer Zahl zeigen können, nicht nur die großen Werke, sondern auch Stücke kleinerer Meister. Gerade sie sind es, die den Blick für die Vergangenheit schärfen. Ob wir etwas damit anfangen können, liegt nicht an der Ausstellung, sondern an unserer Bereitschaft, Regeln und Moden anzuerkennen, die für uns nicht mehr gelten. Wenn nur die Originale in unversehrtem Zustand zu sehen sind, ist der Zweck des Museums erfüllt.

Manchmal aber möchten auch Opernhäuser Museen sein. In Berlin haben das in dieser Saison die Staatsoper mit Telemanns „Der geduldige Sokrates“ und nunmehr die Deutsche Oper mit Eugen D’Alberts „Tiefland“ versucht. Das Ergebnis ist paradox. In beiden Fällen ist auf der Bühne ein hochmodernes, bewundernswert durchdachtes Theater zu sehen, das mit der vollen Wucht seiner Inspiration ins Leere läuft, weil das Werk, das mit diesen Mitteln im Wortsinne ausgestellt werden soll, unwiderruflich der Vergangenheit angehört. Nun kann man es zwar hören, ist aber verstimmt, weil man es zugleich auch nicht hören kann, denn es ist eben nicht das Original in seiner Zeit, zu dem man wie im Museum in geduldiger Erwartung historischer Entdeckungen zurückkehren könnte. Es gibt kein solches Original.

1903 ist „Tiefland“, die drei Stunden dauernde Oper des seinerzeit gefeierten Klaviervirtuosen und Liszt-Schülers D’Albert zum ersten Mal gespielt worden, nach einer Umarbeitung auf Verlangen des Verlegers auch bald mit nachhaltigem Erfolg. D’Albert hat ein Drama des katalanischen Naturalisten Angel Guimeràs vertont. Ein bankrotter Großgrundbesitzer will seine Geliebte, die er als 13-Jährige von der Straße geholt hatte, einem Hirten zur Frau geben, damit sie ihm auch dann noch zur Verfügung steht, wenn er seine Finanzen mit der Heirat einer reichen Erbin saniert hat. Das hat er vor, aber es geht schief, weil die zum Gelächter des ganzen Dorfes arrangierte Scheinehe in Liebe umschlägt und der betrogene Dumme vom Berge den Herrn im Tal (dem „Tiefland“) totschlägt. „Wie ein Wolf“, singt er nach vollbrachter Tat und entführt das missbrauchte Mädchen „Hinauf, in die Berge, ans Licht“.

Man kann Roland Schwab, dem Regisseur, nur dankbar sein, dass er nichts davon zeigt. Er rettet sich ans sichere Ufer der Abstraktion. Eine meistens in eisblaues Licht getauchte, steil bis zur Senkrechten an den Bühnenhimmel aufsteigende Rampe ersetzt die Bergwelt, die Spielfiguren kraxeln daran als hilflose Opfer der Schwerkraft herum, die mühelos als Symbol ihres blutigen Sexualtriebes zu entziffern ist. Symbolische Abstraktion auch die fratzenhaft geschminkten Dörfler, attraktiv arrangiert, ebenso die in wilde Zacken auseinandergesprengte Behausung des unfreiwilligen Paares. Schön anzusehen, Zeit genug dafür gibt es. Denn D’Albert war gewiss kein Meister der dramatischen Zuspitzung. Mit epischer Langatmigkeit vielmehr entwickelt er seine musikalischen Einfälle, die Leidenschaft, Ausbeutung und Elend schildern sollen – und all das nicht sind. Es sind mal einfache, aber niemals banale, mal mächtig aufbrausende, aber niemals zügellose, niemals schockierende oder gar gewaltsame Klänge, die dieser zweifellos bedeutende Musiker vor einem Publikum ausgebreitet hat, das diese elegante Kunst aus gutem Grund zu schätzen wusste. Es kannte sich wieder, hörte nicht nur den allmächtigen Wagner nachklingen, sondern überraschend und subtil auch die Pariser Operette und das Chanson …

Und heute? Das Orchester unter Yves Abel, Egilis Silins, Torsten Kerl und Nadja Michael in den Hauptrollen spielen und singen diese vergangene Musik ganz wundervoll und mit allem Respekt, den sie verdient. Große Oper mit Schicksalen, die uns noch heute betreffen, entsteht draus nicht. Es liegt nicht am Stoff – sexueller Missbrauch Abhängiger wäre aktuell genug –, sondern an der Zeit. So kostbar es ist, drei Stunden bliebe man im Museum vor diesem Bild eines kleineren Meisters wohl nicht stehen. In der Oper muss man diese Geduld haben – und Nachsicht üben, wenn sie einmal sein will, was ihr so oft zu Unrecht vorgeworfen wird: ein Museum.