FLAMEN UND WALLONEN EINT IMMER WENIGER. EUROPA WIRD ES ÜBERLEBEN
: Belgien, das entzweite Land

Schon zum zweiten Mal sind die Regierungsverhandlungen in Belgien gescheitert. Seit knapp sechs Monaten führt in Brüssel eine kommissarische Regierung die Geschäfte. Ein Ende dieses Zustands ist nach der erneuten Niederlage des flämischen Christdemokraten Yves Leterme als Verhandlungsführer nicht abzusehen. Zu groß, ja unüberwindbar, erscheint der Graben zwischen den frankophonen und den flämischen Parteien. Die Flamen bestehen auf eine umfassende Staatsreform, die den beiden Regionen mehr Kompetenzen einräumt, die Frankophonen lehnen dies ab. Also heißt es einmal mehr: Stillstand in Brüssel.

In dieser Krise wird deutlich, dass Flamen und Wallonen kaum noch eine gemeinsame Basis haben, um in einem gemeinsamen Staat politisches Leben zu gestalten. Man muss nicht den Zusammenbruch des Landes prophezeien, die Aufspaltung in zwei unabhängige Länder oder gar den Anschluss der beiden Landesteile jeweils an die Niederlande und Frankreich. Aber auch gegen den Widerstand der Frankophonen werden früher oder später mehr Kompetenzen an die Regionalregierungen übertragen werden. Bei der Föderalregierung würden dann nur noch wenige, vor allem außenpolitische Entscheidungen verbleiben – die Führung der Armee etwa oder die Organisation der belgischen Entwicklungshilfe.

Erstaunlich, dass kein Aufschrei des Entsetzens durch Europa geht – schließlich driftet da ein Gründungsstaat der Europäischen Union auseinander. Aber letztlich wird sich nicht viel ändern, sollten Flamen und Wallonen in Zukunft nur noch auf dem Papier in einem Staat leben. Die Europäische Union hielte weiterhin beide Landesteile in einer großen Klammer zusammen, auch die Währung, der Euro, bliebe die gleiche. Bereits jetzt sind die Regionen auch auf internationaler Ebene an den Entscheidungsprozessen beteiligt. So vertritt bei den EU-Ministertreffen nicht nur der föderale Minister Belgien – er hat vielmehr immer einen Vertreter aus den Regionen dabei. Zwei starke Regionen in einem schwachen Staat: Das wäre nicht die schlechteste Lösung. RUTH REICHSTEIN