Arm, schwarz und im Zentrum der Macht

USA Mit einer mehrtägigen Aktion direkt vor dem Sitz des US-Parlaments in Washington, samt Besuchen bei Abgeordneten, trägt die linke Protestbewegung ihr Anliegen ins Herz des politischen Establishments

■ US-Präsident Barack Obama hat in einer Grundsatzrede die wachsende soziale Kluft in seinem Land angeprangert. „Die ganz oben an der Spitze sind durch ihre Einkommen und Investitionen reicher geworden als jemals zuvor, alle anderen aber müssen mit Kosten kämpfen, die steigen, und Löhnen, die das nicht tun“, sagte Obama am Dienstag in Osawatomie (Kansas). Der Kampf der Mittelklasse gegen den sozialen Abstieg sei die „entscheidende Frage unserer Zeit“. In Osawatomie hatte Theodore Roosevelt 1910 eine berühmte Rede gehalten, in der er sich für soziale Gerechtigkeit einsetzte. (afp)

AUS WASHINGTON DOROTHEA HAHN

Antisar Vickers und Regina Carter haben den Tag im Vorzimmer ihres Kongressabgeordneten Erik Paulsen verbracht. Sie wollten mit ihm über eine Verlängerung der Arbeitslosenunterstützung und über ein nationales Jobprogramm reden. Aber der Republikaner aus dem 3. Wahlkreis von Minnesota hatte keine Zeit. Am Sonntag waren die Frauen mit 100 anderen Leuten mehr als 1.700 Kilometer im Bus von Minneapolis nach Washington gereist. Vier Tage lang nehmen sie in der US-Hauptstadt an einem nationalen Treffen teil. „Take back the Capitol“ – lautet der Titel: Holt das Kapitol zurück, den Sitz des US-Parlaments.

Das „American Dream Movement“ – ein Zusammenschluss von Gewerkschaften und linken Gruppen – hat das Treffen organisiert. Mehr als 13.000 Menschen aus allen Ecken der USA sind gekommen. Manche haben Aktenordner mit gesammelten Leidensgeschichten mitgebracht. Viele sind arbeitslos. Viele sind Afroamerikaner. Bei der abendlichen Gratisausgabe von Pizza in einem großen weißen Zelt auf der Mall, auf dem „Wir sind die 99 Prozent“ steht, ruft ein Rapper ins Mikrofon: „Hier sind die Grenzen zwischen Weiß und Schwarz aufgehoben.“

Die Occupy-Bewegung in den USA achtet auf Abstand von der organisierten Politik. Die DemonstrantInnen in der Mall hingegen wollen so nah wie möglich herangehen. „Es geht um eine faire Wirtschaft“, sagt Gewerkschaftler Mark D. McCullough: „Wir wollen, dass der Kongress Arbeitsplätze schafft, statt Sozialausgaben zu streichen.“

Seit ihr Abgeordneter sie abblitzen ließ, sitzen Antisar Vickers und Regina Carter unter einem Zeltdach in der Mitte der Mall. Regen prasselt auf die Plane. Die beiden Frauen rauchen Kette und bereiten ihre nächste Aktion vor. Sie werden – wieder in großer Gruppe – vor das Büro des Chefs des Repräsentantenhauses ziehen, „Speaker“ John Boehner.

„Das hier ist ziemlich gekauft“, sagt die 30-jährige Antisar Vickers und beschreibt eine ausladende Geste, die vom abendlich beleuchteten Kapitol bis hin zum Weißen Haus reicht. Sie ist auch von den Demokraten enttäuscht. „Klar ist unser Präsident schwarz“, sagt sie, „aber in den Ghettos, aus denen wir kommen, hat das keine Auswirkung.“

Die beiden Frauen haben sich erst in diesem Herbst kennen gelernt. Die 52-jährige Regina Carter, die mit einer Nichte und deren Kindern zusammenwohnt, erfuhr in diesem Herbst zufällig, dass ihre Bank das Haus ein Dreivierteljahr zuvor an eine andere Bank verkauft hatte und dass eine Räumung drohte. Die Familie bat die örtliche Occupy-Gruppe um Hilfe. Seither zelten Antisar Vickers und andere junge Leute im Garten der Familie. „Ich bleibe, bis sie ihr Haus bekommen oder bis ich verhaftet werde“, sagt Antisar Vickers. Sie lebt mit ihrer 13-jährigen Tochter von 437 Dollar Sozialhilfe im Monat und charakterisiert sich selbst als „arme afroamerikanische Frau“. Jetzt macht sie eine neue Erfahrung: „Zumindest für eine Weile fühle ich mich als Bürgerin.“