Kinder als Lehrmeister

LERNEN In seinem Stück „Faustfestung“ macht sich das Theatermacherduo Nina Ender und Stefan Kolosko auf die Suche nach der verlorenen Einheit von Spielen, Lernen und Leben

VON ROBERT MATTHIES

Es war ein Artikel, der im Sommer 2011 in der Zeit erschienen ist, der die Autorin Nina Ender und den Schauspieler Stefan Kolosko hat aufhorchen lassen. „Mein Kopf ist voll!“ heißt der Text, in dem Yakamoz Karakurt sich über den Stress im Schulalltag beschwert: „Ich gehe in die neunte Klasse eines Hamburger Gymnasiums und habe ein Problem: Ich habe kein Leben mehr“, schreibt die damals 15-Jährige. Eigentlich gehe sie gern in die Schule – aber irgendetwas laufe falsch: Für Hobbys, Freizeit und Spaß sei keine Zeit mehr.

Ein Jahr lang sind die beiden Theatermacher daraufhin auf der Suche nach der verlorenen Einheit von Lernen, Spielen und Leben durch die Hamburger Bildungslandschaft gestreift, haben recherchiert und Kinder und Jugendliche gefragt, was man besser und anders machen müsste. „Faustfestung“ heißt das Stück, das Nina Ender schließlich geschrieben hat.

Am Donnerstag feiert die Inszenierung im Rahmen des Festivals „Old School“ auf Kampnagel Premiere. Zum zweiten Mal will der Themenschwerpunkt junge und alte Akteure und Zuschauer zusammenbringen und mit künstlerischen, theoretischen und persönlichen Perspektiven stereotype Bilder des Altseins und des Alterns hinterfragen.

An Goethes Faustmonolog habe sie der Text der Hamburger Schülerin erinnert, erzählen Ender und Kolosko. Auch Faust, der „protobürgerliche, ureuropäische Bildungsheld“, sagt Kolosko, habe aufgeschrien, das Leben vor lauter Lernen verpasst zu haben. Aber heute sei Faust eben kein alter Mann mehr, sondern Schüler.

„Im Stück gründet sich die erste Bildungspartei BIPA“, erklärt Ender, „und sagt: alle Probleme, die wir haben, sind auf Bildung zurückzuführen.“ Als Podiumsdiskussion ist das Stück angelegt, in der der Parteigründer unter anderem auf einen Neurologie-Spezialisten, eine Deutschlehrerin, eine Dramaturgin, lernwillige Kindergartenkinder und den Direktor des Universitäts-Lyzeums für Lernen, Lernforschung und die Kunst der Lehre trifft.

Das eigentliche Thema der theatralen „Spiel- und Bildungsreise“ aber sei die ungleichzeitige Entwicklung von Welt und Schule, sagt Ender: Als das Schulsystem entstanden ist, sei die Schule noch ein Gegenentwurf zu einer Welt gewesen, in der Kinder zu Hause, im Stollen, auf dem Feld arbeiten mussten. „Man musste sie herausreißen, damit sie etwas lernen“, sagt Ender. Heute sei die Welt eine andere, das Schulsystem aber habe sich nicht verändert. „Man müsste sich fragen“, sagt Ender, „was ist heute mit der Welt der Kinder los und was für einen Gegenentwurf muss man in der Schule machen?“

Der Clou dabei: Auch Ender und Kolosko verstehen sich als Lernende, Spielende, Lebende im Theater. Eine ganz eigene Form von Theater hat das Duo so in den letzten Jahren entwickelt, beeinflusst von Literatur, zugleich aber offen für andere Genres, für Einflüsse aus der Popkultur, aus dem Trash. Und eine Form von Theater, die sich öffnet für diejenigen, über die sonst stellvertretend auf der Bühne gesprochen wird. Ihre „Hamletanstalt“ haben sie vor zwei Jahren gemeinsam mit Dementen entwickelt und gespielt, diesmal werden die Kinder eingezogen.

„Uns geht es nicht um diese heiligen Endproben“, sagt Kolosko. „Das Theater redet von einer Veränderbarkeit der Welt, will sich aber selbst im Produktionsprozess total absichern.“ Indem man die Kinder abends mitspielen lasse, mache man sie zu Lehrmeistern für das Theater.

„Da wird einfach drauflos gespielt“, sagt Kolosko, „ohne dass es vorher einen Plan gibt und ein Ziel, wo es hingeht: das freie Spiel.“ Im Sinne Einar Schleefs und Christoph Schlingensiefs, mit denen Kolosko viel zusammengearbeitet hat, gehe es darum, aus dem, was man nicht könne, Kunst zu machen.

Denn Theater, davon sind Ender und Kolosko überzeugt, ist ein Fest der Sinne, kein Diskurs; Sprache und Spiel, nicht Soziologieprojekt. Und Chance: dass Lernen, Spielen und Leben darin wieder eins werden können. Für den Moment.

■ Old School: Do, 26. 3. bis So, 29. 3., Kampnagel