Aufnehmen und ausgrenzen

DOKUTHEATER Zum dritten Mal beschäftigt sich das Theaterkollektiv „werkgruppe2“ am Staatstheater Braunschweig mit dem Thema Arbeitsmigration: „Fliehen & Forschen“ heißt das Stück über die Stadt als Forschungs- und Flüchtlingsheim-Standort

Das Stück soll zum Perspektivwechsel einladen: Was bedeutet es, draußen zu bleiben?

VON JENS FISCHER

Ein international bedeutender Forschungsstandort zu sein, darauf ist Braunschweig sehr stolz. Die Stadt wirbt damit, dass 15.000 hochqualifizierte Menschen aus mehr als 80 Ländern in Hunderten Hightech-Firmen und Forschungseinrichtungen das Zukunftspotenzial der Region sichern. Der Slogan: „Europas heißeste Forschungsregion“.

Ein bedeutender Flüchtlingsheimstandort zu sein – darauf ist Braunschweig hingegen nicht so stolz. Dass die größte Einrichtung der niedersächsischen Landesaufnahmebehörde an der Boeselagerstraße (welch vielversprechender Name) chronisch überbelegt ist, damit lässt sich nicht so gut werben.

„Die Räumlichkeiten sind für 550 Personen ausgelegt, derzeit leben dort 1.000 Menschen“, hat Julia Roesler recherchiert. Roesler arbeitet als Regisseurin im freien, im Landkreis Göttingen beheimateten Theaterkollektiv „werkgruppe2“. Seit über acht Jahren entwickelt sie gemeinsam mit der Musikerin und Komponistin Insa Rudolph und der Dramaturgin Silke Merzhäuser auf der Grundlage von Interviews akribisch recherchierte dokumentarische Theaterprojekte, von Projekt zu Projekt unterstützt von unterschiedlichen freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern.

In Kooperation mit dem Staatstheater Braunschweig hat sich das Kollektiv nun mit dem Widerspruch von Forschungs- und Flüchtlingsheimstandort auseinandergesetzt. „Fliehen & Forschen“ heißt das Stück, das am Freitag im Kleinen Haus des Staatstheaters uraufgeführt wird.

Exemplarische Extreme

„Wir glauben, dass die Extreme deutscher Einwanderungspolitik hier geradezu exemplarisch einander gegenüberstehen“, sagt Roesler. Vergleichen will das Projekt die Situation der zugewanderten, angeblich gewollten, geschätzten und gefeierten Fachkräfte mit der Situation von Menschen, die ungebeten in die Festung Europa gelangt sind. Die benötige der Arbeitsmarkt im Gegensatz zu den umworbenen Forschern angeblich nicht, sagt Roesler, deswegen erscheine ihre möglichst schnelle Abschiebung opportun.

Ein Ergebnis des Projekts aber sei gewesen, dass die Wege viel verschlungener seien als zunächst angenommen, sagt Roesler. Einer der 17 Interviewpartner beispielsweise, die ihr Team von Oktober 2014 bis Januar 2015 befragt hat, sei aus dem ostafrikanischen Burundi offiziell zum Studieren nach Braunschweig gekommen. „Als in seiner Heimat ein Bürgerkrieg ausbrach, konnte er nicht zurück, war plötzlich Flüchtling, der Asyl beantragen musste“, erzählt Roesler. Heute arbeite der Mann an der Hochschule.

Als höchst unterschiedlich hätten sich auch die Gründe der Neu-Braunschweiger erwiesen, ihre Heimat zu verlassen – neben der Promotion an einer deutschen Universität sei es „die Flucht vor der Rekrutierung durch die syrische Armee, es ist der Weg aus der Zwangsheirat, die Flucht aus einem vom Krieg zerstörten Land oder schlicht der Wunsch nach einem freien, menschenwürdigen Leben“, hat Dramaturgin Merzhäuser notiert.

Willkommenskultur

Mehr als 400 Seiten Textmaterial entstanden bei den Gesprächen mit Flüchtlingen aus Palästina, Syrien, Kurdistan, Pakistan, Afghanistan und verschiedenen Ländern Afrikas. Beim Verschriftlichen wurde die mündliche Sprache beibehalten und, stark gekürzt, auf neun Hauptfiguren verteilt, die nun von sieben Schauspielern dargestellt werden. Sie sollen die Zuschauer im leeren Theater warmherzig, in einer Art vorbildlicher Willkommenskultur empfangen, so die Regieidee, um dann im Rang, Parkett und auf der Bühne ihre Geschichten zu erzählen.

Eine geradezu klassische Ausformulierung des Stils der „werkgruppe2“: Authentische O-Töne werden zu fiktiven Biografien in skizzierter Rahmenhandlung verdichtet, die dann beispielhaft an einer Bevölkerungsgruppe ein soziales Problem hintergründig versinnlichen. Unter der Überschrift „Fliehkräfte“ sind am Staatstheater zum Themenschwerpunkt Arbeitsmigration bisher die Dokumentarstücke „Polnische Perlen“ und „Erdbeerwaisen“ entstanden, mit denen die Situation osteuropäischer Pflegekräfte sowie das Leben der Familien fokussiert wurde, die von rumänischen Wanderarbeitern daheim zurückgelassenen wurden.

Bilder und Klänge

„Fliehen & Forschen“ ist der dritte Teil des Projekts. Hat sich an der Arbeitsweise oder Ästhetik etwas geändert? Roesler muss lange nachdenken – und verweist auf die Stärkung der Bildfantasieebene. „Wir visualisieren in künstlerisch überhöhten Szenen unsere Klischees anderer Kulturen.“ Etwa so: Nachdem ein Flüchtling die Zuhörer mit dem Satz „Für euch bin ich doch nur der zwergenhafte Beduine aus dem Morgenland“ provoziert hat, lässt Roesler Darstellerinnen als schwangere muslimische Frauen vorüberziehen, die zu Terroristinnen mutieren. Ein Witz? „Nein, das könnte ein Lachen bewirken, das im Halse stecken bleibt, weil man eigene stereotypen Zuschreibungen erkennt“, sagt Roesler.

Zum Zweiten werde das Thema von zwei Pianisten und einem Gitarristen auf klanglicher Ebene illustriert: Abendländische Klassik soll mit außereuropäischer Musik verwoben werden und Nationalhymnen, als Sehnsuchtsausdruck der Figuren, würden miteinander verschmelzen, verrät Roesler.

Hauptpunkt Ausgrenzung

„Hauptpunkt und Herzensthema unserer Experten aber ist, wie alltäglicher Rassismus und Islamfeindlichkeit ausgrenzt.“ Hierbei komme das Aufführungskonzept auf den Punkt: „Ausländer spiegeln uns unser Land.“ So sei zu erfahren, wie es für eine Kopftuchträgerin ist, wenn sie stets schief angeguckt werde. Wie sich Moslems fühlen, wenn in der öffentlichen Wahrnehmung die Grenze zwischen Glauben und Extremismus verwischt. Und welch unbeschreibliche Mühsal es für Migranten ist, „die Distanz zwischen ihnen und uns“ zu überwinden.

„Ich komme einfach nicht rein“ in die Gesellschaft, sei so ein vor Traurigkeit schmerzender Satz der Aufführung, berichtet Roesler und erinnert sich an Vergleiche mit den 1930er-Jahren in Deutschland, die ihre Gesprächspartner anstellten.

Grundsätzlich soll die Aufführung daher zu einem Perspektivwechsel einladen und nicht mehr aus europäischer Sicht fragen, „wann wir mit der Aufnahme von Flüchtlingen an die Grenzen unserer Kapazitäten stoßen“, sagt Roesler. Sondern verstehen wollen, was das „für diejenigen bedeutet, die draußen bleiben“.

■ Premiere: Fr, 27. 3., 19.30 Uhr, Staatstheater Braunschweig/Kleines Haus. Weitere Aufführungen: Do, 2. 4., Fr, 10. 4., Fr, 17. 4., Sa, 25. 4., Sa 9. 5. und Do, 25. 6., je 19.30 Uhr