Nervt Berlin?
Ja

Hauptstadt Hundescheiße, Baustellen und Arroganz, sehen die einen. Abenteuer, Freiheit und KaDeWe, die anderen

Die sonntazfrage wird vorab online gestellt.Immer am Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz. www.taz.de/streit oder www.facebook.com/taz.kommune

Talja Dohan, 33, bloggt über ihre Erfahrungen als Amerikanerin in Berlin Die Berliner nerven. Sie halten sich für die größten Großstädter, die es überhaupt nur gibt, aber offensichtlich waren sie noch nie in New York, Tokio, Seoul, Mexico City oder São Paulo. Berlin ist ein Klacks, seine Straßen sind so leer, seine Häuser sind so niedrig – Berlin ist einfach keine echte Metropole. Berlin ist eine Ansammlung von einzelnen Kleinstädten, die zufällig so nah aneinander stehen, dass sie nahtlos ineinander übergehen. Zu einer echten Metropole würden natürlich auch horrende Mieten gehören – aber für eine Wohnung in Berlin zahlt man sogar weniger als in noch kleineren Städten wie München, Frankfurt oder Köln. Die Berliner selbst sind abweisend, unhöflich und am Kontakt mit anderen Menschen kaum interessiert. Sie versuchen völlig verkrampft, cool zu sein. Sie kaufen für teures Geld alte Baumwollbeutel mit Sprüchen und tragen die als Handtaschen. Sie sind alle irgendwie Möchtegernkünstler und geben sich tolerant. Gleichzeitig ist der Rassismus hier in der Stadt weit verbreitet: Wenn ich mit einem schwarzen Freund unterwegs bin, werden wir seltsam angeschaut und teilweise auch angepöbelt. Und die Berliner Verwaltung ist atemberaubend inkompetent. Ständig wird irgendwo eine Straße aufgerissen, eine großflächige Baustelle breitet sich aus, und hinterher ist die Straße nicht besser als vorher. Berlin ist einfach unfassbar überschätzt.

Falko Rademacher, geboren 1974, ist Autor von „Das Buch für Berlinhasser“Über 100.000 Hunde sind in Berlin angemeldet, geschätzte weitere 100.000 terrorisieren die Umwelt, ohne dafür zu bezahlen. Verfluchte Drecksköter. Die eindeutig am wenigsten liebenswerte Marotte der Berliner ist ihre Leidenschaft für diese kläffenden Fäkalienfabrikanten. An die tausend Beißattacken werden pro Jahr registriert, die meisten Opfer sind Kinder. Fünfzig Tonnen Hundekot landen in Berlin täglich auf der Straße. Das sind Tonnen. Fünfzig. Jeden Tag. Sie können das Niveau einer Gegend präzise am Hundescheiße-Koeffizienten pro Quadratmeter Gehweg bemessen. Es gibt Orte wie den Wrangelkiez in Kreuzberg oder das Afrikanische Viertel im Wedding, da türmt sich schon Hundekacke auf einem älteren Haufen Hundekacke. Die Ordnungsämter sind machtlos, denn niemand schert sich einen Scheißdreck um das Gesetz des Einsammelns von Scheißdreck. Das nervt!

Ulrike Meyer, 26, hat die Frage in der taz-Kommune auf Facebook kommentiertIch freue mich schon auf den Tag, an dem ich meine Sachen packen und Berlin den Rücken kehren kann. Mich nervt dieser Hype. Und die Größe der Stadt – und sie scheint nicht aufzuhören, zu wachsen – die damit verbundenen weiten Wege und geraubte Zeit. Die Menschen! Die Menschen, ich will nicht alle über einen Haufen scheren, aber ich stoße immer wieder auf eine Arroganz und Oberflächlichkeit. Mir fehlt so oft die einfache Menschlichkeit, jeder will individueller und hipper sein, und alles andere scheint dabei verloren zu gehen. Jeder will nach Berlin, jeder findet Berlin cool, doch ich habe nach drei Jahren Hiersein noch immer nicht rausbekommen, was eigentlich. Jeder redet darüber, aber definieren konnte es mir keiner. Multikulti ist schön, aber diese Schnelllebigkeit, niemals zur Ruhe kommen, immer noch einen oben drauf …??? Für mich ist diese Stadt nix. Ich gehöre hier nicht her.

NEIN

Zoë Beck, geboren 1975, arbeitet als Autorin, Redakteurin und ÜbersetzerinMag sein, dass vieles nervt, aber das tut’s überall. Ich bin schon oft umgezogen und endlich wieder nach Berlin zurückgekommen, nur um festzustellen, dass mir nichts so sehr gefehlt hat, wie hier zu leben. Berlin lässt einen sein, wie man ist. Oder sein will. Die Stadt gibt alle Möglichkeiten, hat alles im Angebot, bietet mehr als jeder andere Ort, auch (besonders!) abseits von Mitte und Prenzlauer Berg. Vor allem aber gibt sie dieses Gefühl von Freiheit. Gleichzeitig verlangt Berlin sehr viel Eigeninitiative ab, man muss sich schon etwas anstrengen, um das Richtige zu finden. Wenn man es gefunden hat, ist man angekommen. Spannend und einmalig zu erleben, wie die Stadt sich selbst sucht und erfindet, mit allen Erfolgen und jedem Scheitern. Die Geschichte und die Narben sind dabei an jeder Ecke so präsent, dass es eigentlich keiner Denkmäler bedarf. Mag sein, dass vieles nervt, aber mehr Leben, mehr Inspiration als hier finde ich in Deutschland nicht.

Felix Brummer, 22, von Kraftklub, singt: „Ich will nicht nach Berlin“Berlin nervt nicht! Hat uns nie genervt. Berliner nerven uns auch nicht. Oder vielleicht ein bisschen. Manchmal. Aber so im Rahmen. Daran gewöhnt man sich. Berliner scheinen Mitleid mit der Provinz zu haben. Wobei Provinz so ziemlich alles ist, wodurch keine U-Bahn fährt. Was uns allerdings immer genervt hat, waren all die Nichtberliner, die ganz dringend Berliner sein wollten. Da gab es viele bei uns. Tiefstes Sächsisch gesprochen, aber immer ein „Wa!?“ an jeden Satz gehängt. Und sofort dieser mitleidige Unterton. „Ich zieh nach Berlin!“ klang nach „Hej Leute, ich vergesse euch nicht, aber ein großer Fisch braucht einen großen Teich!“ Berlin nervt nicht! Berlin ist super. Es gibt Spätshops, Nachtbusse und Schawarma. Die latente Überheblichkeit der Berliner haben wir sogar ein klein wenig liebgewonnen. Was wirklich nervt, sind die Geschichten derer, die seit zwei Monaten in Berlin wohnen. Krampfhaft die Augen verschließend vor einem unumstößlichen Fakt: Auch die interessanteste Stadt der Welt färbt nicht zwangsläufig ab. Oder: Wenn du schon in Chemnitz ein Idiot warst, dann bleibst du auch in Berlin ein Idiot!

Heidi Hetzer, 74, ist Unternehmerin und Rallyefahrerin aus BerlinNein, Berlin nervt überhaupt nicht. Ich höre manchmal von Gästen, dass sie genervt sind. Es gibt ja tatsächlich Berliner, die an Silvester die Polizei anrufen und sich über den Krach beschweren. Aber so ist eben eine Großstadt, die muss so sein: laut, aufregend, nervig. Es gibt so viele Restaurants, Kneipen, Theater. Ich wohne in der Nähe der Oper, könnte jederzeit reingehen, wenn ich das will, oder ins KaDeWe – das ist toll. Die anderen Städte in Deutschland sind einfach schlafmütziger. Da würde ich auch zu oft die selben Leute treffen, das ist doch langweilig. Man muss hier auch nicht immer fein angezogen sein. Wer hier elegant rumläuft, ist meistens ein Tourist. Aber hier wird man nicht kritisiert dafür, wie man aussieht. Berlin ist eine klassenlose Gesellschaft. Und ich will als Mensch geschätzt werden, will so sein wie ich bin. Kein Labelmensch sein. Dieses Getratsche in den Kleinstädten: „Wie sieht denn Frau Müller heute aus, hat die vielleicht einen neuen Mann?“ – furchtbar. Nein, das ist nichts für mich. Es gibt keinen besseren Ort. Ich möchte nie woanders hin. In Berlin bin ich frei.